17.09.2002 -

Das Bundesarbeitsgericht hatte sich innerhalb weniger Monate in zwei Entscheidungen mit der für die betriebliche Praxis besonders wichtigen Frage zu beschäftigen, wie zu verfahren ist, wenn während der Amtszeit des Betriebsrats ein im Wege der Verhältniswahl nach § 38 Abs. 2 Satz 1 Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) in die Freistellung gewähltes Betriebsratsmitglied aus der Freistellung ausscheidet oder abberufen wird (BAG, Beschluss vom 25.04.2001 – 7 ABR 26/00 -, NZA 2001, 977; BAG, Beschluss vom 14.11.2001 – 7 ABR 31/00 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

 

Obwohl sich beide Beschlüsse noch mit Fragen beschäftigen, die auf dem Gruppenprinzip, also der Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten beruht, das ja bekanntlich aufgrund des seit dem 28. Juli 2001 geltenden Betriebsverfassungs-Reformgesetzaufgehoben worden ist, haben die von dem BAG aufgestellten Grundsätze auch für die Zukunft bzw. das neue Betriebsverfassungsgesetz weitreichende Bedeutung.

 

Fall 1 (verkürzt):

Im ersten Fall stritten die Beteiligten über die Ersatzfreistellung für ein ausgeschiedenes Betriebsratsmitglied.

 

Im Betrieb der Arbeitgeberin bestand ein aus 12 Angestellten und 3 Arbeitern bestehender Betriebsrat. Obwohl nach § 38 BetrVG in seiner bis zum Inkrafttreten des Betriebsverfassungs-Reformgesetzes geltenden Fassung bei einem 15-köpfigen Betriebsrat lediglich drei Betriebsratsmitglieder freizustellen waren, sah ein entsprechender Freistellungs-Tarifvertrag die Freistellung von 8 Betriebsratsmitgliedern vor, was durch § 38 Abs. 1 Satz 3 BetrVG aF (§ 38 Abs. 1 Satz 5 BetrVG nF) ausdrücklich zugelassen wird.

 

Entsprechend ihrem Verhältnis im Betriebsrat entfielen auf die Gruppe der Angestellten 7 Freistellungen, auf die Gruppe der Arbeiter lediglich eine Freistellung, wobei sich die jeweiligen Vorschläge für die Angestellten aus zwei Listen zusammensetzen.

 

Ein auf Vorschlag der Liste 2 in die Freistellung gewähltes Betriebsratsmitglied schied während seiner Amtszeit aus dem Arbeitsverhältnis aus, so dass damit auch gleichzeitig seine Mitgliedschaft und die damit verbundene Freistellung im Betriebsrat endete (vgl. auch § 24 Nr. 3 BetrVG nF).

 

Im Betriebsrat stritt man nun darüber, wer das ausgeschiedene Betriebsratsmitglied ersetzen sollte. Ein Teil der Betriebsratsmitglieder vertrat die Auffassung, dass der nicht gewählte Bewerber aus der ursprünglichen Liste 2 automatisch in die Freistellung nachrücke. Die Mehrheit der Betriebsratsmitglieder war hingegen der Ansicht, das ersatzweise zu benennende Mitglied müsse neu gewählt werden und bestimmten sodann im Wege der Mehrheitswahl einstimmig ein weiteres Betriebsratsmitglied in die Freistellung.

 

Fall 2:

In der weiteren nun bekannt gewordenen Entscheidung ging es um folgenden Fall:

In einem Unternehmen bestand ein aus 29 Mitgliedern bestehender Betriebsrat. Aufgrund einer Betriebsvereinbarung (vgl. § 38 Abs. 1 Satz 5 BetrVG nF) wurde die Anzahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder auf 5 festgelegt. Diese 5 freizustellenden Betriebsratsmitglieder wurden aufgrund von zwei Vorschlagslisten im Wege der Verhältniswahl gewählt. Auf die so genannte „KKK-Liste“, die 5 Bewerber enthielt, entfielen nach dem d`Hondtschen-Verfahren drei Freizustellende; aus der „IG-Metall-Liste“, auf der die Betriebsratsmitglieder R und U kandidierten, wurden diese beiden Betriebsratsmitglieder als Freizustellende gewählt.

 

Das Betriebsratsmitglied U wurde nun mit einem Stimmenverhältnis von 22:7 als freigestelltes Betriebsratsmitglied abberufen und dafür das Betriebsratsmitglied B, das bei der Freistellungswahl auf der „KKK-Liste“ kandidierte hatte, zur Freistellung vorgeschlagen und mit 17:7 Stimmen gewählt.

 

Die Freistellungswahl wurde von 7 Betriebsratsmitgliedern mit der Begründung angefochten, nach der Abberufung eines Betriebsratsmitglieds, dessen Freistellung im Wege der Verhältniswahl erfolgt sei, müsse aus Gründen des Minderheitenschutzes die Neuwahl aller freizustellenden Betriebsratsmitglieder im Wege der Verhältniswahl erfolgen.

 

 

Die Lösung der Fälle:

 

In beiden Entscheidungen hat das Bundesarbeitsgericht in der Rechtsbeschwerde die Beschlüsse der Vorinstanzen aufgehoben und die Anträge für begründet erklärt.

 

I. Bisher: Unklare Rechtslage!

 

Die Entscheidung der Rechtsstreite hing im Wesentlichen davon ab, welche Grundsätze gelten, wenn während der Amtszeit des Betriebsrats ein im Wege der Verhältniswahl nach § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG in die Freistellung gewähltes Betriebsratsmitglied ausscheidet. In der arbeitsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung wurden dabei bislang die denkbar unterschiedlichsten Auffassungen vertreten.

 

So geht ein Teil der Instanz-Rechtsprechung und auch des Schrifttums davon aus, dass ungeachtet des Minderheitenschutzes ein freizustellendes Betriebsratsmitglied stets nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl nachzuwählen ist. Andere halten in solchen Fällen eine Neuwahl sämtlicher freizustellender Betriebsratsmitglieder für erforderlich. Schließlich ist ein weiterer Teil des Schrifttums der Auffassung, dass in entsprechender Anwendung des § 25 Abs. 2 Satz 1 ein Betriebsratmitglied aus der Vorschlagsliste nachrückt, der das bisher freigestellte Betriebsratsmitglied angehörte, wobei dann innerhalb dieser Meinung noch weitere voneinander abweichende Auffassungen vertreten wurden.

 

 

II. BAG: Grundsätzlich keine Neuwahl!

 

Der 7. Senat des BAG hat sich nunmehr dahingehend entschieden, dass bei Ausscheiden eines im Wege der Verhältniswahl gewählten Betriebsratsmitglieds das ersatzweise freizustellende Mitglied in entsprechender Anwendung des § 25 Abs. 2 Satz 1 BetrVG der Vorschlagsliste zu entnehmen ist, der das zu ersetzende Mitglied angehörte. Dabei hat das Gericht zunächst dargestellt, dass trotz der fehlenden gesetzlichen Regelung nicht davon ausgegangen werden kann, das aus der Freistellung ausgeschiedene Betriebsratsmitglied müsse überhaupt nicht ersetzt werden. Die erforderliche Mindestzahl von freizustellenden Betriebsratsmitgliedern sei für die gesamte Amtszeit des Betriebsrats maßgeblich. Das Ausscheiden eines Betriebsratsmitglieds aus der Freistellung und die damit verbundene Unterschreitung der Mindestzahl bedarf daher eines Ausgleichs.

 

Entsprechende Anwendung des § 25 BetrVG

Der Ausgleich erfolgt durch die entsprechende Anwendung des § 25 Abs. 2 Satz 1 BetrVG. Nur so könne der in § 38 Abs. 2 BetrVG vorgesehene Minderheitenschutz gewährleistet werden. Deshalb muss bei Ausscheiden eines Freigestellten grundsätzlich keine Neuwahl aller Freizustellenden stattfinden. Nur im Falle der Erschöpfung der Liste kann das ersatzweise freizustellende Betriebsratsmitglied dann im Wege der Mehrheitswahl gewählt werden. Durch dieses Prinzip bleiben die verbesserten Möglichkeiten von Minderheiten zur aktiven Mitarbeit bei der täglichen Betriebsratsarbeit erhalten. Zudem haben die Arbeitnehmer einer Minderheitengruppe unter den freigestellten Betriebsratsmitgliedern weiterhin eine Person ihres Vertrauens.

 

Fazit damit:

Das ersatzweise freizustellende Mitglied ist damit zunächst in entsprechender Anwendung des § 25 Abs. 2 Satz 1 BetrVG zu ermitteln. Ist die Liste erschöpft, ist das ersatzweise freizustellende Mitglied im Wege der Mehrheitswahl zu wählen.

 

Hinweis für die Praxis:

Die Neufassung des § 25 Abs. 2 Satz 1 BetrVG enthält ausdrücklich den Zusatz, dass Ersatzmitglieder unter Berücksichtigung des § 15 Abs. 2 BetrVG bestimmt werden sollen. § 15 Abs. 2 BetrVG enthält dabei die nunmehr zwingende Verpflichtung, dass der Betriebsrat entsprechend der im Betrieb vorhandenen Geschlechterquote besetzt sein muss. Die vorgenannten Grundsätze des BAG sind deshalb auch dann anzuwenden, wenn ein freigestelltes Betriebsratsmitglied, das von dem im Betrieb in der Minderheit vertretenen Geschlechts besetzt worden ist, ausscheidet.

 

 

Verfasser: Dr. Nicolai Besgen, Fachanwalt für Arbeitsrecht

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