23.07.2025 -
Verspätete Zielvorgabe: Warum Arbeitnehmer Anspruch auf volle variable Vergütung haben können – Urteil des BAG mit Praxisrelevanz...
Der BAG-Urteil stellt klar: Verspätete Zielvorgaben durch den Arbeitgeber führen zur vollen Zielerreichung des Arbeitnehmers, und damit zum vollen Anspruch auf variable Vergütung des Arbeitnehmers (credits: adobestock).

In der Praxis kommt es immer wieder zu Streit über die fristgerechte Vorgabe von Zielen für das laufende Jahr. Haben die Vertragsparteien vereinbart, dass der Arbeitgeber die Ziele zur Erreichung einer erfolgsabhängigen variablen Vergütung einseitig vorgibt (sogenannte Zielvorgabe) stellt sich regelmäßig die Frage, zu welchem Zeitpunkt diese Zielvorgabe nicht mehr realistisch im laufenden Jahr nachgeholt werden kann. Das Bundesarbeitsgericht hat in einem aktuellen Urteil klargestellt, dass eine nachträgliche Zielvorgabe jedenfalls dann unmöglich wird, wenn die Anreiz-, Motivations- und Steuerungsfunktion, die mit der variablen Vergütung verfolgt wird, nicht mehr erfüllt werden kann (BAG v. 19.2.2025, 10 AZR 57/24). Die wichtige Entscheidung möchten wir hier für die Praxis besprechen.

Der Fall (verkürzt):

Der klagende Arbeitnehmer war bei dem beklagten Arbeitgeber seit dem 18. Juli 2016 als Head of Advertising am Standort K beschäftigt. Er war Mitarbeiter mit Führungsverantwortung.

Der Arbeitsvertrag vom 21. März 2016 lautete auszugsweise:

„§ 4 Vergütung

4.1 Der Arbeitnehmer erhält für seine Tätigkeit ein Jahreszielgehalt in Höhe von € 95.000 (i. W. fünfundneunzigtausend) bei 100% Zielerreichung. Das Zielgehalt setzt sich aus einem Bruttofixgehalt in Höhe von € 66.500 (i. W. sechsundsechzigtausendfünfhundert) und einer variablen, erfolgsabhängigen Vergütung in Höhe von brutto € 28.500 (i. W. achtundzwanzigtausendfünfhundert) bei 100% Zielerreichung zusammen.

4.2 Die Ziele werden zunächst zeitnah nach Antritt der Beschäftigung und im Folgenden zu Beginn eines jeden Kalenderjahres vom Vorgesetzten definiert und die Zieldefinition diesem Arbeitsvertrag spätestens 4 Wochen nach Arbeitsaufnahme als Anlage hinzugefügt.

4.3 Eine Unter- oder Übererfüllung der Ziele wird anteilig berechnet. Eine Übererfüllung der Ziele wird bis zu 200% vergütet. Die Zahlung der variablen Vergütung erfolgt jährlich nach Abschluss eines Geschäftsjahres, spätestens im Februar des Folgejahres.“

Das Bruttojahreszielgehalt des Klägers betrug zuletzt 102.125,00 €. Der Betrag beinhaltete ein Fixgehalt in Höhe von 71.488,00 € und 30.637,00 € als variable Vergütung bei einer Zielerreichung von 100 %.

Im März 2019 schlossen die Betriebspartner für die am Standort K beschäftigten Mitarbeiter ergänzend eine „Betriebsvereinbarung über das Vergütungsmodell“. Darin ist u.a. Folgendes geregelt:

III. Variable Vergütung

1. Der Mitarbeiter erhält bis zum 01.03. des Kalenderjahres eine zuvor mit ihm zu besprechende Zielvorgabe. Diese setzt sich zu 70 % aus Unternehmenszielen zusammen. 30 % entfallen auf individuelle Ziele, von denen bis zu 3 definiert werden sollen. Die Gewichtung dieser individuellen Ziele liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Führungskraft, die sich hierzu mit dem Mitarbeiter abstimmen soll. Der Arbeitgeber verpflichtet sich, den Mitarbeitern Ziele vorzugeben, die nach pflichtgemäßer Beurteilung ex ante erreichbar sind. Haben sich Umstände, die zur Grundlage der Zielvorgabe geworden sind, nach Vorgabe des Ziels schwerwiegend verändert und hätte der Arbeitgeber, wenn er dies vorausgesehen hätte, die Zielvorgabe anders gestaltet, so kann der Mitarbeiter eine Anpassung der Zielvorgabe verlangen, soweit ihm ein Festhalten an der ursprünglichen Zielvorgabe nicht zugemutet werden kann. Der Mitarbeiter kann den Betriebsrat oder ein Betriebsratsmitglied seiner Wahl hierzu vermittelnd hinzuziehen.

2. Der variable Gehaltsbestandteil richtet sich nach der Zielerreichung des Mitarbeiters und ist bei 200 % gedeckelt.

3. Die Zielerreichung wird im Februar des Folgejahres nach Feststehen des Jahresabschlusses festgestellt.

Verpäteter Zielvorgabe: Kläger fordert Schadensersatz wegen voller Zielerreichung

Dem Kläger wurden erst am 15. Oktober 2019 für das Jahr 2019 konkrete Zahlen zu den Unternehmenszielen auch hinsichtlich deren Gewichtung und des Zielkorridors genannt. Eine Vorgabe individueller Ziele erfolgte für das Jahr 2019 nicht.

Der Kläger sprach dann eine Eigenkündigung zum 30. November 2019 aus. Die Beklagte zahlte an den Kläger für 2019 eine variable Vergütung in Höhe von 15.586,55 € brutto. Bei den individuellen Zielen legte sie einen pauschalierten Zielerreichungsgrad von 142 % zugrunde und bei den Unternehmenszielen in Abstimmung mit dem Betriebsrat einen pauschalierten Wert von 37 %.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Arbeitgeber sei ihm zum Schadensersatz verpflichtet, weil er für das Jahr 2019 keine individuellen Ziele und die Unternehmensziele erst verspätet vorgegeben habe. Eine dem Motivationsgedanken und der Anreizfunktion einer Zielvorgabe gerecht werdende Aufstellung von Unternehmenszielen, wie auch von individuellen Zielen, sei für einen vergangenen Zeitraum nicht möglich. Es sei daher davon auszugehen, dass er rechtzeitig vorgegebene, billigem Ermessen entsprechende Unternehmensziele zu 100 % und individuelle Ziele entsprechend dem Durchschnitt von 142 % erreicht hätte. Bei einer auf dieser Basis ermittelten Gesamtzielerreichung von 112,6 % stünden ihm unter Berücksichtigung der bereits für das Jahr 2019 geleisteten Zahlung weitere 16.035,94 € als Schadensersatz zu.

Der beklagte Arbeitgeber hat den Schadensersatzanspruch abgelehnt. Die tatsächliche Zielerreichung bei den Unternehmenszielen habe 0 % betragen und sei lediglich in Abstimmung mit dem Betriebsrat pauschal auf 37 % festgelegt worden. Individuelle Ziele seien allenfalls mit 100 % in Ansatz zu bringen.

Das Arbeitsgericht hat die Zahlungsklage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat im Berufungsverfahren der Zahlungsklage hingegen stattgegeben.

Die Entscheidung:

Im Revisionsverfahren hat das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts bestätigt und den Anspruch bejaht.

I. Einseitige Zielvorgaben

Zielvorgaben werden, anders als Zielvereinbarungen, allein vom Arbeitgeber getroffen, dem dafür ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht im Sinne des § 315 Abs. 1 BGB eingeräumt wird. Vorgaben für die Ausübung des billigen Ermessens können sich aus vertraglichen oder aus kollektivrechtlichen Vereinbarungen ergeben. Entsprechende Vereinbarungen sind auch in allgemeinen Geschäftsbedingungen zulässig. Die einseitige Leistungsbestimmung, also die Vorgabe der Ziele, ist immer nur dann verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht, § 315 Abs. 3 Satz 1 BGB.

Hinweis für die Praxis:

Die Frage, ob die einseitige Leistungsbestimmung der Billigkeit entspricht, unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle. Daher kann grundsätzlich auch im Wege der gerichtlichen Ersatzleistungsbestimmung eine Vorgabe von Zielen erfolgen. In der Praxis ist aber eine solche Ersatzleistungsklage schon aus Gründen des Zeitablaufs wenig zielführend, da Zielvorgaben immer nur für das laufende Jahr getroffen werden können.

II. Zeitpunkt der Zielvorgabe?

Ob und ggf. bis zu welchem Zeitpunkt der Arbeitgeber eine Zielvorgabe vornehmen muss, ergibt sich zunächst aus den vertraglichen Vereinbarungen oder aus den für das Arbeitsverhältnis geltenden kollektivrechtlichen Bestimmungen. Unklar ist aber, welche Regelungen greifen, wenn der Arbeitgeber diese Zeitpunkte nicht einhält. Bis zu welchem Zeitpunkt kann der Arbeitgeber dann eine nicht erfolgte Zielvorgabe nachholen?

Das Bundesarbeitsgericht betont, dass dies nicht einheitlich und generell zu beantworten ist. Dies lässt sich nur nach Sinn und Zweck der Leistungsbestimmung und der Interessenlage der Parteien beurteilen. Kann eine verspätete Zielvorgabe ihre Motivations-, Anreiz- und Steuerungsfunktion nicht mehr erfüllen, tritt formal Unmöglichkeit ein. Dann scheidet eine nachträgliche Leistungsbestimmung durch den Arbeitgeber und auch durch das Arbeitsgericht aus. Der Arbeitnehmer kann dann statt der Festlegung von Zielen Schadensersatz verlangen.

Die Nachholung scheidet jedenfalls dann aus, wenn die Zielperiode abgelaufen ist. Eine Zielvorgabe kann ihre Funktionen nur dann sinnvoll erfüllen, wenn der Arbeitnehmer bereits bei der Ausübung seiner Tätigkeit die von ihm zu verfolgenden Ziele kennt.

Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wenn die Zielperiode zwar angelaufen, aber noch nicht vollständig abgelaufen ist. Ob dann eine nachträgliche Zielvorgabe noch sinnvoll und möglich ist, hängt allein von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere dem Inhalt der jeweiligen vertraglichen Abreden. Allerdings ist dann zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung für in der Vergangenheit liegende Zeiträume nicht mehr nachholen kann. Die Zielvorgabe hat die Funktion, die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers zu steuern und ihn zu einer Arbeitsleistung zu motivieren. Für die Vergangenheit kann er diese Motivation nicht mehr nachholen.

Hinweis für die Praxis:

Die Zielvorgabe muss nicht spätestens am 1. Januar eines Kalenderjahres erfolgen. Auch Arbeitgeber können zu Beginn einer Zielperiode noch nicht über alle notwendigen Informationen verfügen, um tragfähige, realistische und auch erreichbare Ziele vorgeben zu können. Es führt daher nicht automatisch zur Unmöglichkeit der Zielvorgabe, wenn ein gewisser Anteil der Zielperiode bereits verstrichen ist. Eine Zielvorgabe wird aber auf jeden Fall dann unmöglich, wenn so erhebliche Teile der Zielperiode abgelaufen sind, dass die Anreiz-, Motivations- und Steuerungsfunktion nicht mehr erfüllt werden kann.

III. Berechnung des Schadensersatzes

Im vorliegenden Fall hatte der Arbeitgeber die individuellen Ziele gar nicht und die Unternehmensziele erst im Oktober des Kalenderjahres mitgeteilt. Die Pflichtverletzung des Arbeitgebers war daher so groß, dass der Arbeitnehmer auf die Erreichung der Ziele keinen Einfluss mehr nehmen konnte. Ihm stand der volle Schadensersatzanspruch zu. Die Berechnung des Arbeitnehmers zum Schadensersatzanspruch erfolgte zutreffend. Unter Berücksichtigung der bereits geleisteten Zahlung von 15.586,55 € wurde der geltend gemachte Schadensersatzanspruch in Höhe von 16.035,94 € zugesprochen.

Hinweis für die Praxis:

Den Arbeitnehmer traf dabei kein anspruchsminderndes Mitverschulden. Arbeitnehmer sind nicht verpflichtet, auf die Festlegung von Zielen hinzuwirken. Hat der Arbeitgeber Ziele durch eine Zielvorgabe vorzugeben, bedarf es grundsätzlich keiner Mitwirkung des Arbeitnehmers. Die Initiativlast trägt allein der Arbeitgeber.

Fazit:

Viele Arbeitgeber vereinbaren insbesondere mit ihren Führungskräften eine variable Vergütung. Damit sollen die Arbeitnehmer zu besonderen Arbeitsleistungen motiviert werden. Bei einer einseitigen Zielvorgabe ist dann der Arbeitgeber aber auch in der Pflicht. Er muss die Zielvorgabe so rechtzeitig vorgeben, dass der Arbeitnehmer im laufenden Jahr darauf noch Einfluss nehmen kann. Andernfalls wird die mit der variablen Vergütung verfolgte Motivations-, Anreiz- und Steuerungsfunktion nicht mehr gewährleistet. Erfolgt die Zielvorgabe verspätet oder gar nicht, steht dem Arbeitnehmer der volle variable Vergütungsanspruch als Schadensersatzanspruch zu.


Autor: Prof. Dr. Nicolai Besgen

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