01.10.2025 -
BAG-Urteil: Keine Diskriminierung eines schwerbehinderten Menschen, wenn das Auswahlverfahren bei Bewerbung bereits abgeschlossen ist...
BAG: Mit Beendigung des Bewerbungsverfahren durch eine finale Besetzungsentscheidung kann der Arbeitgeber die Vermutung einer diskriminierenden Benachteiligung widerlegen (credits: adobestock).

Arbeitgeber treffen im laufenden Bewerbungsverfahren zahlreiche Pflichten. Diese Pflichten sind bei Bewerbungen schwerbehinderter Arbeitnehmer besonders gesteigert, siehe z.B. § 164 SGB IX. Verstöße gegen diese Pflichten können die Vermutung einer Benachteiligung wegen Schwerbehinderung im Sinne von § 22 AGG begründen. Das Bundesarbeitsgericht hat in einem wichtigen Urteil nun klargestellt, dass der Arbeitgeber diese Vermutung der Benachteiligung widerlegen kann, wenn das Auswahlverfahren zum Zeitpunkt der Bewerbung des Schwerbehinderten bereits abgeschlossen war (BAG v. 27.3.2025, 8 AZR 123/24).

Der Fall:

Der beklagte Arbeitgeber bietet Dienstleistungen im Bereich der IT-Sicherheit an. Im Internet schrieb er eine Stelle als „Scrum Master/Agile Coach“ aus. Der Kläger bewarb sich mit Schreiben vom 23.8.2021 auf die Stelle und wies dabei auf seine Schwerbehinderung hin. Die Bewerbung ging am 24.8.2021 bei dem beklagten Arbeitgeber in elektronischer Form ein. Eine automatisierte Eingangsbestätigung wurde auf den 24.8.2021, 12:30 Uhr, datiert.

Bei dem Arbeitgeber ist weder ein Betriebsrat noch eine Schwerbehindertenvertretung gebildet. Der Divisionsleiter entschied sich für einen Mitbewerber und ließ diesem per E-Mail vom 24.8.2021 um 15:39 Uhr den Entwurf eines Arbeitsvertrages zukommen. Der Bewerber bestätigte den Eingang um 16:01 Uhr und erklärte sich mit dem Vertragsinhalt zwei Tage später am 26.8.2021 mittels E-Mail um 10:03 Uhr einverstanden. Der von beiden Parteien unterzeichnete Arbeitsvertrag ging dem Arbeitgeber nach Rücksendung durch den Bewerber frühestens am 3.9.2021 zu. Bis zu diesem Tag war die Stelle weiter im Internet veröffentlicht. Am 3.9.2021 wurde dem Schwerbehinderten mitgeteilt, dass seine Bewerbung keine Berücksichtigung gefunden habe.

Der Kläger macht wegen der Absage seine Diskriminierung und eine Entschädigung in Höhe von 1,5 Monatsgehältern, mithin 8.752,50 €, geltend. Er sei wegen seiner Schwerbehinderung im Auswahlverfahren diskriminiert worden. Hierauf deute hin, dass der Arbeitgeber entgegen § 164 Abs. 1 S. 2 SGB IX nicht frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeit aufgenommen habe. Es reiche nicht aus, über die Stellenportale der Bundesagentur für Arbeit die Stelle auszuschreiben. Die Stelle sei auch erst mit Abschluss des entsprechenden Arbeitsvertrages, d.h. frühestens am 3.9.2021, besetzt worden. Dementsprechend sei sie auch bis dahin noch im Internet ausgeschrieben gewesen. Daher sei sie bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht früher besetzt worden.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen.

Die Entscheidung:

Im Revisionsverfahren hat das Bundesarbeitsgericht den Anspruch auf Entschädigung einer Diskriminierung ebenfalls abgelehnt.

I. Erteilung eines Vermittlungsauftrages notwendig!

Arbeitgeber sind nach § 164 Abs. 1 S. 1 SGB IX verpflichtet zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen, besetzt werden können. Sie nehmen nach § 164 Abs. 1 S. 2 SGB IX frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeit auf. Die Bundesagentur für Arbeit oder ein Integrationsfachdienst schlägt den Arbeitgebern dann geeignete schwerbehinderte Menschen vor.

Das BAG hat jetzt klargestellt, dass die frühzeitige Verbindungsaufnahme gem. § 164 Abs. 1 S. 2 SGB IX die ausdrückliche Erteilung eines Vermittlungsauftrages gegenüber der bei der Bundesagentur für Arbeit nach § 187 Abs. 4 SGB IX vorgesehenen Stellen auf einem von der Bundesagentur dafür vorgesehenen Kommunikationsweg umfassen muss. Dies beinhaltete die Angabe der für eine Vermittlung erforderlichen Daten. Erst dadurch wird die in § 164 Abs. 1 S. 3 SGB IX vorgesehene Unterbreitung von Vermittlungsvorschlägen für die Bundesagentur für Arbeit ermöglicht und dem Gesetzeszweck entsprochen.

Hinweis für die Praxis:

Das bloße Einstellen einer Suchanzeige auf dem Vermittlungsportal der Bundesagentur für Arbeit (Jobbörse) ist zur Einhaltung der vorgenannten Verbindungsaufnahme nicht ausreichend. Fehlt es an der Erteilung eines Vermittlungsauftrages, begründet dies die Vermutung einer Benachteiligung nach § 22 AGG.

II. Widerlegung der Vermutung bei vorzeitiger Stellenbesetzung

Der Arbeitgeber hatte sich hier darauf berufen, das Auswahlverfahren sei zum Zeitpunkt der Bewerbung bereits abgeschlossen gewesen. Das BAG hat dies bestätigt. Trägt der Arbeitgeber substantiiert vor und kann beweisen, dass das Auswahlverfahren bereits abgeschlossen war, widerlegt dies die Vermutung einer Diskriminierung nach § 22 AGG. Die Schwerbehinderung kann dann die Entscheidung des Arbeitgebers nicht (mit)beeinflusst haben. Allerdings schließt der Umstand, dass eine ausgeschriebene Stelle bereits vor Eingang der Bewerbung der klagenden Partei besetzt wurde, nicht generell deren Benachteiligung aus. Es kommt vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls an, beispielsweise darauf, ob ggf. eine vom Arbeitgeber gesetzte Bewerbungsfrist unterlaufen wurde und/oder ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine bereits vor Eingang einer Bewerbung erfolgte Stellenbesetzung gleichwohl zu einer Benachteiligung des nicht berücksichtigten Bewerbers führte.

Dementsprechend muss auch unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls entschieden werden, zu welchem Zeitpunkt das Auswahlverfahren bezogen auf die Besetzung einer bestimmten Stelle abgeschlossen war. Dies ist zwar spätestens dann der Fall, wenn der Arbeitsvertrag mit dem erfolgreichen Bewerber abgeschlossen wurde. Der für die Beurteilung einer Benachteiligung maßgebliche Zeitpunkt kann jedoch schon vorher gegeben sein. Entscheidend für die Prüfung eines Entschädigungsanspruchs ist daher der Zeitpunkt der Entscheidung, die Stelle nicht mit dem Bewerber zu besetzen. Diese Entscheidung kann im Sinne einer positiven Entscheidung für einen anderen Bewerber oder im Sinne einer nur negativen Entscheidung gegen den abgelehnten Bewerber getroffen werden.

Im vorliegenden Fall ist nicht auf den eigentlichen Vertragsschluss abgestellt worden, sondern auf die durch den zuständigen Divisionsleiter getroffene Einstellungsentscheidung. Diese Entscheidung erfolgte am 24.8.2021 bereits um 11:09 Uhr. Die Bewerbung des Schwerbehinderten erfolgte an diesem Tag aber erst um 12:30 Uhr. Das Auswahlverfahren und die Entscheidung zur Stellenbesetzung waren daher bereits abgeschlossen.

Hinweis für die Praxis:

Der Umstand, dass die Stelle noch bis zum 3.9.2021 im Internet ausgeschrieben war und dem Kläger erst an diesem Tag die Absage mitgeteilt wurde, war ohne Belang. Es bleibt jedem Arbeitgeber unbenommen, die Ausschreibung bis zum Vertragsschluss noch offenzuhalten, um bessere Voraussetzungen für eine etwaige Neueröffnung des Verfahrens zu schaffen. Auch ist ein Arbeitgeber nicht verpflichtet, vorzeitig Stellenabsagen zu versenden. Selbst Änderungen am Vertragstext hätten daran nichts geändert.

Fazit:

Das BAG schafft erfreuliche Rechtsklarheit. Eine finale Besetzungsentscheidung widerlegt die Vermutung einer diskriminierenden Benachteiligung. Dabei kommt es nicht auf den eigentlichen Vertragsschluss an. Der Arbeitgeber muss aber genau nachweisen, dass für ihn das Bewerbungsverfahren vor Eingang der Bewerbung eines schwerbehinderten Bewerbers abgeschlossen war. Zum anderen macht die Entscheidung einmal mehr deutlich, dass Arbeitgeber die besonderen Pflichten nach dem SGB IX streng beachten müssen. So müssen Arbeitgeber einen betreuten Vermittlungsauftrag an die nach § 187 Abs. 4 SGB IX eingerichtete besondere Stelle bei der Bundesagentur für Arbeit richten, um eine Benachteiligung von schwerbehinderten Menschen auszuschließen.


Autor: Prof. Dr. Nicolai Besgen

Lorbeerkranz

Auszeichnungen

  • TOP-Wirtschafts­kanzlei für Arbeits­recht
    (FOCUS SPEZIAL 2025, 2024, 2023, 2022, 2021, 2020)

  • TOP-Kanzlei für Arbeitsrecht
    (WirtschaftsWoche 2025, 2024, 2023, 2022, 2021, 2020)

  • TOP-Anwältin für Arbeitsrecht: Ebba Herfs-Röttgen
    (WirtschaftsWoche, 2023, 2022, 2021, 2020)

  • TOP-Anwalt für Arbeitsrecht: Prof. Dr. Nicolai Besgen
    (WirtschaftsWoche 2023, 2020)

Autor

Bild von Prof. Dr. Nicolai Besgen
Partner
Prof. Dr. Nicolai Besgen
  • Rechtsanwalt
  • Fachanwalt für Arbeitsrecht

UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME

Sprechblasen

UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME

Sind Sie unsicher, ob Sie mit Ihrer Angelegenheit bei uns richtig sind?
Nehmen Sie gerne unverbindlich Kontakt mit uns auf und schildern uns Ihr Anliegen.
Wir freuen uns auf Ihren Anruf.

Kontakt aufnehmen