Bei Betriebsänderungen in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern ist der Arbeitgeber verpflichtet, einen Interessenausgleich und Sozialplan zu vereinbaren, §§ 111 ff. BetrVG. Schwierig ist die Ermittlung der maßgeblichen Arbeitnehmerzahl. Das Bundesarbeitsgericht hatte nun die schwierige und auch praxisrelevante Frage zu beantworten, ob bei der Ermittlung der maßgeblichen Unternehmensgröße Leiharbeitnehmer mitzuzählen sind und diese Frage bejaht (BAG, Urt. v. 18.10.2011 – 1 AZR 335/10).
Der Fall:
Der klagende Arbeitnehmer ist Bodenlegerhelfer. Er war bei dem beklagten Arbeitgeber, der ein Unternehmen betreibt, das sich mit dem Verkauf und dem Verlegen von Bodenbelägen befasst, seit November 2000 zu einem Stundenlohn von zuletzt 11,00 € brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden angestellt.
Der Arbeitgeber beschäftigte bis Mai 2009 regelmäßig 20 eigene Arbeitnehmer. Jedenfalls in der Zeit vom 3. November 2008 bis zum 15. September 2009 war bei ihm darüber hinaus eine Leiharbeitnehmerin eingesetzt.
Ende Mai 2009 kündigte der Arbeitgeber den Kläger sowie zehn weitere Arbeitnehmer zum 30. September 2009 aus betriebsbedingten Gründen. Zuvor hatte er den bei ihm gebildeten Betriebsrat über die beabsichtigten Kündigungen unterrichtet, den Versuch eines Interessenausgleichs jedoch abgelehnt. Die Kündigung wurde in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren für wirksam erachtet.
Der Arbeitnehmer hat jedoch geltend gemacht, ihm stehe gem. § 113 Abs. 3 BetrVG ein Nachteilsausgleich zu. Der Arbeitgeber habe aufgrund seiner Unternehmensgröße einen Interessenausgleich versuchen müssen. Der maßgebliche Schwellenwert von mehr als 20 Arbeitnehmern sei erfüllt, da auch die beschäftigte Leiharbeitnehmerin mitgezählt werden müsse.
Mit seiner Klage machte er einen Nachteilsausgleichsanspruch in Höhe von 2/3 seines Bruttomonatsgehalts, 11.431,20 €, geltend.
Das Arbeitsgericht hat der Klage in Höhe von 5.750,60 € stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat hingegen im Berufungsverfahren die Klage vollständig abgewiesen.
Die Entscheidung:
I. Betriebsänderung und Schwellenwert
Nach § 111 Satz 1 BetrVG hat der Arbeitgeber in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit ihm zu beraten. Eine Betriebseinschränkung kann dabei auch durch bloßen Personalabbau erfolgen, der die Zahlengrößen des § 17 Abs. 1 KSchG übersteigt.
Im vorliegenden Fall waren in dem Unternehmen genau 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt, damit nicht mehr als 20. Tätig war aber auch eine Leiharbeitnehmerin. Es stellte sich daher die Frage, ob Leiharbeitnehmer mitzuzählen sind.
II. Leiharbeitnehmer und Schwellenwerte?
Das Bundesarbeitsgericht hat festgestellt, dass bei der Ermittlung des Schwellenwertes Leiharbeitnehmer, die länger als drei Monate im Unternehmen eingesetzt sind, mitzählen. Dies folge bereits aus § 7 S. 2 BetrVG, wonach Leiharbeitnehmer im Einsatzbetrieb wahlberechtigt sind, wenn sie dort länger als drei Monate eingesetzt werden.
Zwar gebe es zu § 9 BetrVG eine Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach Leiharbeitnehmer bei der Feststellung der Belegschaftsstärke nicht mitgerechnet werden. Das zu § 9 BetrVG entwickelte Verständnis des Begriffs „wahlberechtigte Arbeitnehmer“ sei jedoch auf § 111 BetrVG nicht zu übertragen. Bei der Bestimmung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens mache es keinen Unterschied, ob die Arbeitsplätze mit eigenen Arbeitnehmern oder mit Leiharbeitnehmern besetzt sind.
Aber: Leiharbeitnehmer sind bei der Ermittlung des Schwellenwertes in § 111 S. 1 BetrVG nur zu berücksichtigen, wenn sie „wahlberechtigt“ sind. Erforderlich ist daher, dass sie entsprechend § 7 S. 2 BetrVG länger als drei Monate in dem Betrieb eingesetzt sind.
III. „In der Regel“ Beschäftigte
Leiharbeitnehmer sind bei der Feststellung der Belegschaftsstärke auch nur dann mitzuzählen, wenn sie zu den „in der Regel“ Beschäftigten gehören. Maßgeblich ist damit die Personalstärke, die für das Unternehmen im Allgemeinen kennzeichnend ist und nicht, wie viele Arbeitnehmer dem Unternehmen im Zeitpunkt der Entscheidung über die Betriebsänderung zufällig angehören. Die Feststellung der maßgeblichen Unternehmensgröße erfordert regelmäßig sowohl einen Rückblick als auch eine Prognose. Werden Arbeitnehmer nicht ständig, sondern lediglich zeitweilig beschäftigt, kommt es für die Frage der regelmäßigen Beschäftigung nicht darauf an, ob sie normalerweise während des größten Teils eines Jahres, d.h. länger als sechs Monate beschäftigt werden. Auch dieses Erfordernis war vorliegend erfüllt.
IV. Bemessung der Abfindungshöhe
Die Bemessung der Abfindungshöhe hat gem. § 113 BetrVG unter Berücksichtigung des Lebensalters und der Betriebszugehörigkeit zu erfolgen (vgl. § 10 KSchG). Bei der Ermessensentscheidung sind die Arbeitsmarktchancen und das Ausmaß des betriebsverfassungswidrigen Verhaltens zu beachten. Der Sanktionscharakter der Abfindung führt dazu, dass der Abfindungsanspruch nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit oder individuellen Leistungsbereitschaft des Arbeitgebers abhängt.
Das Bundesarbeitsgericht hat hier den üblichen Regelsatz von einem halben Gehalt je Jahr der Betriebszugehörigkeit festgesetzt. Dies entspricht den gängigen Maßstäben.
Fazit:
Leiharbeitnehmer sind bei der maßgeblichen Unternehmensgröße in § 111 S. 1 BetrVG zu berücksichtigen und mitzuzählen. Dies kann dazu führen, dass selbst bei kleineren Unternehmen, die nicht mehr als 20 Arbeitnehmer in einem Arbeitsverhältnis als Vertragsarbeitgeber beschäftigen, dennoch Sozialplan- und Interessenausgleichsverhandlungen geführt werden müssen, wenn Leiharbeitnehmer eingesetzt werden. Im Falle von anstehenden Betriebsänderungen ist es daher zu empfehlen, auch die Leiharbeitnehmer zu berücksichtigen und mit einem gewissen Vorlauf etwaige Vertragsbeziehungen zu beenden, um so ggf. unter den maßgeblichen Schwellenwert zu gelangen.
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