28.10.2009 -

 

Mitarbeiter, die aufgrund eines Interessenausgleichs mit Namensliste gekündigt werden, können sich auf eine unzutreffende Sozialauswahl nur bei grober Fehlerhaftigkeit berufen. Dies gilt dann nicht, wenn sich die Sachlage nach Zustandekommen des Interessenausgleichs „wesentlich“ geändert hat. Das Bundesarbeitsgericht hat in einer aktuellen Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung fortentwickelt und sich nochmals im Einzelnen mit den Wirkungen eines Interessenausgleichs bei der betriebsbedingten Kündigung eines schwerbehinderten Menschen befasst (BAG, Urt. v. 23.10.2008 – 2 AZR 163/07). Wir möchten die Kernaussagen der Entscheidung nachfolgend darstellen.

 

Der Sachverhalt der Entscheidung (verkürzt):

In dem Rechtsstreit streiten die Parteien über die Wirksamkeit einer ordentlichen, betriebsbedingten Kündigung und über einen Vergütungsanspruch für den Monat Oktober 2005.

Der 1956 geborene Kläger ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er war bei dem beklagten Unternehmen, das Damenoberbekleidung vertreibt, seit 1981 als einer von acht Fahrern im Versandfahrdienst beschäftigt. Er ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Der Arbeitgeber führte im Jahre 2004 eine umfangreiche Umstrukturierung durch. Von ca. 1.100 Arbeitnehmern wurden im Januar und April 2004 mehr als 400 Mitarbeiter betriebsbedingt gekündigt. Im September 2004 kam es zu einer weiteren Umstrukturierung und der Kündigung von weiteren 59 Mitarbeitern. Dieser Umstrukturierung ging ein Interessenausgleich mit Namensliste voraus. Unter der Nr. 25 befand sich der Name des klagenden Fahrers.

Im Zuge der beantragten Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung des Klägers fand am 27. Januar 2005 eine Einigungsverhandlung bei der zuständigen örtlichen Verwaltungsstelle statt. An dieser Verhandlung nahmen u.a. die Vorsitzende des Betriebsrats und der Vertreter der Schwerbehindertenvertretung teil. Über den Inhalt des Gesprächs wurde ein Protokoll gefertigt.

Nach der erteilten – nicht bestandskräftig gewordenen – Zustimmung des Integrationsamtes hörte der Arbeitgeber den Betriebsrat, der bereits im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen zu den beabsichtigten Kündigungen angehört worden war, nochmals zur beabsichtigten Kündigung an. Im Anschluss kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 23. Februar 2005 ordentlich zum 30. September 2005.

Im März 2005 verlor der Arbeitgeber einen anderen Kündigungsschutzprozess mit einem anderen Versandmitarbeiter. Im Zuge der wegen des Prozessverlustes notwendigen Weiterbeschäftigung übertrug der Arbeitgeber diesem Mitarbeiter Beladetätigkeiten auf dem Betriebsgelände.

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie hingegen im Berufungsverfahren abgewiesen.

 

Die Entscheidung:

Das Bundesarbeitsgericht hat die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts bestätigt.

 

I. Bestandskräftige Zustimmung des Integrationsamtes?

Der Arbeitgeber hat vor der Kündigung die wegen der Gleichstellung des Arbeitnehmers erforderliche Zustimmung des Integrationsamtes eingeholt. Die Zustimmung wurde erteilt. Allerdings ist der Entscheidung zu entnehmen, dass der Arbeitnehmer gegen den Bescheid Anfechtungsklage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht erhoben hatte. Das Verwaltungsgericht hatte zum Zeitpunkt der arbeitsgerichtlichen Entscheidungen noch nicht entschieden. Das Bundesarbeitsgericht hat nochmals klargestellt, dass das Landesarbeitsgericht nicht verpflichtet war, das arbeitsgerichtliche Verfahren auszusetzen und den Ausgang des Verwaltungsrechtsstreits abzuwarten. Eine Aussetzung nach § 148 ZPO bedürfte es nicht.

 

Hinweis für die Praxis:

Liegt die Zustimmung des Integrationsamtes vor, kann der Arbeitgeber die Kündigung aussprechen. Der Arbeitnehmer kann zwar Widerspruch erheben und im Falle der Zurückweisung des Widerspruchs auch Anfechtungsklage beim Verwaltungsgericht einreichen; das Recht des Arbeitgebers zum Ausspruch der Kündigung wird hierdurch jedoch nicht berührt. Freilich wirkt eine spätere Aufhebung der ursprünglichen Zustimmung zurück. Die Kündigung wird nachträglich unwirksam.

 

II. Betriebsratsanhörung auch bei Interessenausgleich mit Namensliste

Der Arbeitgeber ist auch bei Vorliegen eines Interessenausgleichs mit Namensliste nach § 1 Abs. 5 KSchG nicht von der Pflicht zur Anhörung des Betriebsrats zur Kündigung entbunden. Die Betriebsratsanhörung unterliegt keinen erleichterten Anforderungen. Der Arbeitgeber hat zwar den Betriebsrat im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen umfangreich informiert und dem Betriebsrat lagen auch zu diesem Zeitpunkt alle notwendigen Informationen zu den betroffenen Arbeitnehmern vor. Dennoch handelt es sich um zwei unterschiedliche Verfahren.

 

Hinweis für die Praxis:

Die Pflicht zur ordnungsgemäßen Anhörung nach § 102 BetrVG ist auch im Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahren sehr ernst zu nehmen und sorgfältig durchzuführen. In der Praxis wird diese Verpflichtung oftmals vernachlässigt. Im Zuge der umfangreichen und zeitaufwendigen Verhandlungen ist es den Betriebspartnern oft nicht verständlich, zusätzlich nochmals ein (überflüssiges) Verfahren nach § 102 BetrVG durchzuführen. Das volle Risiko trägt aber der Arbeitgeber. Beruft sich ein Arbeitnehmer im anschließenden Kündigungsschutzprozess auf die Unwirksamkeit der Kündigung nach § 102 BetrVG, liegt die Darlegungs- und Beweislast allein auf Arbeitgeberseite.

 

III. Wirkungen eines Interessenausgleichs mit Namensliste 

Liegen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG vor, muss der Arbeitnehmer darlegen, dass die Beschäftigung für ihn nicht weggefallen ist. Dazu ist substantiierter Tatsachenvortrag erforderlich, der den gesetzlich vermuteten Umstand nicht nur in Zweifel zieht, sondern ausschließt. Die Vermutungswirkung soll bewirken, dass der Arbeitgeber die Betriebsbedingtheit einer Kündigung nicht im Einzelnen darzulegen braucht. Dementsprechend muss der Arbeitnehmer substantiiert darlegen, wieso der Arbeitsplatz trotz der Betriebsänderung noch vorhanden ist oder wo er sonst im Betrieb oder Unternehmen weiterbeschäftigt werden kann.

Dabei kann es ausreichen, wenn der Arbeitnehmer substantiiert darlegt und ggf. beweist, aufgrund der getroffenen Unternehmerentscheidung habe sich der Beschäftigungsbedarf nicht in dem vom Arbeitgeber geltend gemachten Umfang verringert. Geht es aber um eine Weiterbeschäftigung in einem anderen als dem originären Arbeitsbereich des Arbeitnehmers, ist weiter notwendig, dass dort ein freier vergleichbarer und gleichwertiger Arbeitsplatz oder ein freier Arbeitsplatz zu geänderten schlechteren Arbeitsbedingungen vorhanden ist.

Als „frei“ sind grundsätzlich solche Arbeitsplätze anzusehen, die zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung unbesetzt sind. Dem steht es gleich, wenn Arbeitsplätze bis zum Ablauf der Kündigungsfrist frei werden, sofern dies dem Arbeitgeber im Kündigungszeitpunkt bekannt war oder bekannt sein musste. Dies war im vorliegenden Fall nicht gegeben. Erst nach Ausspruch der Kündigung verlor der Arbeitgeber einen anderen Kündigungsschutzprozess und war daher verpflichtet, diesen anderen Mitarbeiter weiterzubeschäftigen. Zum Zeitpunkt der Kündigung war dies nicht absehbar.

 

IV. Kein Wegfall der Geschäftsgrundlage

Die Vermutung der Betriebsbedingtheit der Kündigung und der geänderte Prüfungsmaßstab für die Sozialauswahl kommen nach § 1 Abs. 5 Satz 3 KSchG nur dann nicht zur Anwendung, wenn sich die Sachlage nach dem Zustandekommen des Interessenausgleichs so wesentlich geändert hat, dass von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage auszugehen ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der wesentlichen Änderung ist auch hier der Kündigungszeitpunkt. Wesentlich ist die Änderung dann, wenn nicht ernsthaft bezweifelt werden kann, dass beide Betriebspartner oder einer von ihnen den Interessenausgleich in Kenntnis der späteren Änderung nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten. Dies ist etwa der Fall, wenn sich nachträglich ergibt, dass nun gar keine oder eine andere Betriebsänderung durchgeführt werden soll oder wenn sich die im Interessenausgleich vorgesehene Zahl der zur Kündigung vorgesehenen Arbeitnehmer erheblich verringert hat. Eine geringfügige Veränderung genügt nicht.

Im vorliegenden Fall wurde durch den verlorenen anderen Kündigungsschutzprozess lediglich eine weitere vorhandene Beschäftigungsmöglichkeit geschaffen. Dies reicht aber für die Annahme einer „wesentlichen Änderung“ der Sachlage im Sinne des § 1 Abs. 5 Satz 3 KSchG nicht aus.

 

Fazit:

Mit der vorliegenden Entscheidung hat das Bundesarbeitgericht seine Grundsätze zu den Wirkungen eines Interessenausgleichs mit Namensliste bestätigt und konkretisiert. Der Entscheidung ist zuzustimmen. Sie macht aber deutlich, dass gerade bei einem Interessenausgleich mit Namensliste zahlreiche Fallstricke drohen. Die Betriebspartner sind daher gehalten, die strengen formalen Anforderungen konsequent zu beachten und das notwendige Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG getrennt durchzuführen.

 

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