11.05.2010 -

Bei der Behinderung/Schwerbehinderung handelt es sich um ein Diskriminierungsmerkmal nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Werden schwerbehinderte Arbeitnehmer im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens benachteiligt, löst dies Entschädigungsansprüche nach § 15 Abs. 2 AGG aus. Indizien für eine Benachteiligung sind bei einem öffentlichen Arbeitgeber die unterbliebene Einladung des schwerbehinderten Bewerbers zum Vorstellungsgespräch. Das Bundesarbeitsgericht hat die hierzu geltenden (strengen!) Grundsätze in einem aktuellen Urteil für die Praxis klargestellt (BAG, Urt. v. 21.7.2009 – 9 AZR 431/08).

Der Fall:

Der schwerbehinderte Arbeitnehmer bewarb sich auf die Stellenanzeige einer öffentlichen Kreisverwaltung. Der Arbeitnehmer hat einen Grad der Behinderung von 50. Die beiden juristischen Staatsexamina hat er beide mit „ausreichend“ bestanden. In den Jahren 1997 bis 2001 war er aufgrund mehrerer befristeter Arbeitsverträge als Volljurist im Rechtsamt einer Stadt beschäftigt. Danach war er von Januar 2002 bis Dezember 2003 als Leiter der Rechtsschutzabteilung eines Vereins tätig. Seit Ende des Jahres 2004 ist er selbständiger Rechtsanwalt mit den Tätigkeitsschwerpunkten Sozial-, Arbeitsrechts- Miet-, Haftungs- und Verwaltungsrecht.

Die Stellenausschreibung lautete auszugsweise wie folgt:

„Wir erwarten ein abgeschlossenes Studium der Rechtswissenschaften, I. oder II. Staatsexamen. Gewünscht werden besondere Kenntnisse im Allgemeinen und besonderes Verwaltungsrecht.

Schwerbehinderte werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt.“

Der Stellenausschreibung war ein Anforderungsprofil zugrunde gelegt. Danach verlangte die beklagte Kreisverwaltung die erste und die zweite juristische Staatsprüfung. Neben besonderen Kenntnissen im Allgemeinen und besonderem Verwaltungsrecht setzte sie ausgezeichnete Rechtskenntnisse voraus, insbesondere auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Diese Kenntnisse sollten durch entsprechende Examensnoten dokumentiert sein.

Der Kläger bewarb sich auf die ausgeschriebene Stelle. Insgesamt bewarben sich 180 Personen. Die beklagte Arbeitgeberin berücksichtigte Bewerbungen mit zwei ausreichenden Staatsexamina – unter anderem die des Klägers – von vornherein nicht. In einer zweiten Stufe schieden alle Bewerber mit zwei befriedigenden Examina aus dem Auswahlverfahren aus. In die engere Auswahl kamen 25 Bewerber mit einem mindestens voll befriedigenden und einem befriedigenden Staatsexamen. Die Arbeitgeberin lud acht Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch ein. Der Kläger wurde nicht eingeladen.

Auf das Ablehnungsschreiben hin machte der Kläger eine Entschädigung von drei Monatsvergütungen unter anderem wegen des Verstoßes gegen die Einladungspflicht aus § 82 Satz 2 SGB IX in Höhe von 4.929,75 € geltend.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen.

Die Entscheidung:

Im Revisionsverfahren hat das Bundesarbeitsgericht die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

I. Einladungspflicht des öffentlichen Arbeitgebers!

Der öffentliche Arbeitgeber hat den schwerbehinderten Bewerber nach § 82 Satz 2 SGB IX zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen (Siehe dazu auch Nicolai Besgen, Schwerbehindertenrecht Arbeitsrechtliche Besonderheiten, 1. Aufl. 2009, 34 Rn. 28). Diese Pflicht besteht nach § 82 Satz 3 SGB IX nur dann nicht, wenn dem schwerbehinderten Menschen fachliche Eignung offensichtlich fehlt. Ein schwerbehinderter Bewerber muss bei einem öffentlichen Arbeitgeber die Chance eines Vorstellungsgesprächs bekommen, wenn seine fachliche Eignung zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen ist. Selbst wenn sich der öffentliche Arbeitgeber aufgrund der Bewerbungsunterlagen schon die Meinung gebildet hat, ein oder mehrere Bewerber seien so gut geeignet, dass der schwerbehinderte Bewerber nicht mehr in die nähere Auswahl komme, muss er den schwerbehinderten Bewerber nach dem Gesetzesziel einladen. Der schwerbehinderte Bewerber soll den öffentlichen Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch von seiner Eignung überzeugen können.

Wird ihm diese Möglichkeit genommen, liegt darin eine weniger günstige Behandlung, als sie das Gesetz zur Herstellung gleicher Bewerbungschancen gegenüber anderen Bewerbern für erforderlich hält. Der Ausschluss aus dem weiteren Bewerbungsverfahren ist eine Benachteiligung, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Behinderung steht. Der Ausschluss benachteiligt den schwerbehinderten Menschen unmittelbar im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG.

II. Offensichtlich fehlende fachliche Eignung?

Ob ein Bewerber offensichtlich nicht die notwendige fachliche Eignung hat, beurteilt sich nach den Ausbildungs- oder Prüfungsvoraussetzungen für die zu besetzende Stelle und den einzelnen Aufgabengebieten. Diese Erfordernisse werden von den in der Stellenausschreibung geforderten Qualifikationsmerkmalen konkretisiert. Durch die Bestimmung des Anforderungsprofils für einen Dienstposten legt der Dienstherr die Kriterien für die Auswahl der Bewerber fest. Für das Auswahlverfahren bleibt die Dienstpostenbeschreibung verbindlich. Die Funktionsbeschreibung des Dienstpostens bestimmt objektiv die Kriterien, die der Inhaber erfüllen muss.

Im vorliegenden Fall wurden in dem Anforderungsprofil keine konkretenMindestnoten verlangt. Die Arbeitgeberin traf vielmehr eine schematische negative Auswahl anhand der Examensergebnisse. Der Kläger blieb aber für die Stelle grundsätzlich geeignet. Die Regelung lässt die Pflicht des öffentlichen Arbeitgebers zur Einladung zum Vorstellungsgespräch nicht schon dann entfallen, wenn der schwerbehinderte Mensch mutmaßlich schlechter geeignet ist als ein oder mehrere Mitbewerber.

Hinweis für die Praxis:

Der schwerbehinderte Bewerber soll durch die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch die Chance bekommen, den öffentlichen Arbeitgeber trotz der schlechteren „Papierform“ von seiner Eignung zu überzeugen. Werden in diesem Sinne Bewerber mit schlechteren Examensnoten, die in der Ausschreibung so nicht gefordert waren, von vornherein ausgeschlossen, ist in der Entscheidung des Arbeitgebers die Schwerbehinderung nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts als negatives Kriterium enthalten. Damit liegt ein Indiz für eine Benachteiligung nach dem AGG vor. Die bessere Eignung von Mitbewerbern schließt eine Benachteiligung dabei nicht aus. Dies folgt unmittelbar aus § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG. Danach ist selbst dann eine Entschädigung zu leisten, wenn der schwerbehinderte Bewerber auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.

Fazit:

Öffentliche Arbeitgeber sind verpflichtet, schwerbehinderte Arbeitnehmer zum Vorstellungsgespräch zu laden. Nur die offensichtlich fehlende Einung lässt dieses Erfordernis entfallen. Maßstab ist die Stellenausschreibung und das bekannt gemachte Anforderungsprofil, das während der Ausschreibung nicht mehr verändert werden darf. In Zweifelsfällen ist zu empfehlen, schwerbehinderte Bewerber einzuladen und vor allem auch die Schwerbehindertenvertretung entsprechend zu informieren, um Entschädigungsklagen zu vermeiden.

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