Sind sowohl der Steuerpflichtige wie das Finanzamt an die durch den Steuerpflichtigen eingereichte Bilanz gebunden, wenn die zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ungeklärte bilanzrechtliche Zweifelsfrage zu einem späteren Zeitpunkt höchstrichterlich abweichend entschieden wird?
Aktive Rechnungsabgrenzung für die Betriebsvermögensminderung aus der verbilligten Abgabe von Mobilfunktelefonen
Mit Vorlagebeschluss vom 07. April 2010 (Az.: I R 77/08) hat der I. Senat des BFH den Großen Senat des BFH zu der folgenden Rechtsfrage angerufen:
Ist das FA im Rahmen der ertragsteuerlichen Gewinnermittlung in Bezug auf zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ungeklärte bilanzrechtliche Rechtsfragen an die Auffassung gebunden, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz zu Grunde liegt, wenn diese Rechtsauffassung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns vertretbar war?
Hintergrund
Ausgangspunkt für die steuerliche Gewinnermittlung ist grundsätzlich die vom Steuerpflichtigen beim Finanzamt eingereichte (Steuer-)Bilanz. Nach der Rechtsprechung des BFH darf bzw. muss das Finanzamt von dieser nur dann abweichen, wenn und soweit sie nicht den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung oder den zwingenden bilanzrechtlichen Vorgaben des Einkommensteuergesetzes entspricht und deshalb fehlerhaft ist. Die Voraussetzungen für eine Abweichung von der eingereichten Bilanz durch das Finanzamt entsprechen nach Auffassung des BFH den Voraussetzungen, die gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 EStG an die Zulässigkeit einer nachträglichen Bilanzberichtigung durch den Steuerpflichtigen selbst geknüpft werden.
Fehlerhaft im vorstehenden Sinne ist ein Bilanzansatz nur dann, wenn der Steuerpflichtige den objektiv gegebenen Rechtsverstoß nach den Erkenntnismöglichkeiten eines ordentlichen Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung – bezogen auf die am Bilanzstichtag objektiv bestehenden Verhältnisse – erkennen konnte (sog. subjektiver Fehlerbegriff). Nach bisheriger Rechtsprechung des BFH gilt der sog. subjektive Fehlerbegriff nicht nur für Tatsachenkenntnisse, sondern auch für die Beurteilung der rechtlichen Verhältnisse. Ist die Rechtslage zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ungeklärt, weil noch keine Rechtsprechung zu der in Rede stehenden Bilanzierungsfrage ergangen ist, so ist nach bisheriger Rechtsprechung des BFH, jede der kaufmännischen Sorgfalt entsprechende Bilanzierung als „richtig” anzusehen. Das Finanzamt ist an diesen zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung subjektiv „richtigen” Bilanzansatz gebunden. Dies gilt selbst dann, wenn die Rechtsfrage nach diesem Zeitpunkt – gleichgültig ob zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen – durch eine höchstrichterliche Entscheidung im gegenteiligen Sinne entschieden wird.
Die Korrektur des objektiv gegebenen Bilanzierungsfehlers erfolgt sodann bei derjenigen Veranlagung, der die erste nach dem Offenbarwerden des Fehlers aufgestellte Bilanz zugrunde liegt.
Der Fall
Die Klägerin des Streitfalls ist eine GmbH, deren Gegenstand die Konstruktion, die Herstellung und der Betrieb eines privaten, mobilen Zellularfunknetzes ist. Im Streitjahr bot sie ihren Kunden den verbilligten Erwerb eines Mobiltelefons für den Fall an, dass diese einen Mobilfunkdienstleistungsvertrag (MFD-Vertrag) mit einer Laufzeit von mindestens 24 Monaten abschlossen oder einen bestehenden Vertrag entsprechend verlängerten. Die Preisermäßigung für das Mobiltelefon war von dem Hersteller und dem Gerätetyp sowie von der Höhe der monatlichen Grundgebühren im Rahmen des abgeschlossenen MFD-Vertrags abhängig.
Das beklagte Finanzamt vertrat die Auffassung, zwischen den MFD-Verträgen und den Kaufverträgen über die Mobiltelefone bestehe eine wirtschaftlich enge Verknüpfung i. S. von Vertragsbündelungen. Die durch die verbilligte Abgabe entstandene Betriebsvermögensminderung sei daher gemäß § 5 Abs. 5 Satz i Nr. 1 EStG i. V. m. § 8 Abs. 1 KStG im Rahmen eines aktiven Rechnungsabgrenzungspostens (RAP) periodengerecht über die Laufzeit des MFD-Vertrags abzugrenzen. Der I. Senat des BFH schloss sich dieser Auffassung an.
Problematisch ist nun aber, dass das durch das beklagte Finanzamt im Streitfall angenommene Erfordernis einer aktiven Rechnungsabgrenzung auf der gegenwärtigen − zum Zeitpunkt der finanzgerichtlichen Entscheidung − gültigen objektiven Rechtslage fußt. Zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung stand die Frage, ob die Bildung eines aktiven RAP tatsächlich erforderlich ist, noch im Streit und war durch die höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht eindeutig geklärt. Bei Anwendung des sog. subjektiven Fehlerbegriffs aus der Sicht der Klägerin wäre die eingereichte Bilanz somit nicht fehlerhaft und könnte durch das beklagte Finanzamt nicht geändert werden.
Da der I. Senat des BFH der Frage der Bindungswirkung der bei ungeklärter Rechtslage vom Bilanzierenden bei Aufstellung der Bilanz befolgten Rechtsauffassung grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 11 Abs. 4 FGO beimisst, sah er sich zur Vorlage an den Großen Senat des BFH gezwungen.
Stellungnahme des BFH
Der vorlegende Senat hält es für vorzugswürdig, den subjektiven Fehlerbegriff nicht auf die Beurteilung bilanzrechtlicher Rechtsfragen zu erstrecken.
Grundsätzlich will der I. Senat zwar am sog. subjektiven Fehlerbegriff festhalten, in Bezug auf die Beurteilung bilanzrechtlicher Fragen hält der Senat indes ein Abstellen auf die Erkenntnismöglichkeiten des Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung aus mehreren Gründen nicht für sachgerecht. Denn dem Verfahren der steuerlichen Gewinnermittlung sei ein subjektiver Maßstab in Bezug auf Rechtsfragen prinzipiell fremd.
Hinsichtlich aller Rechtsfragen, die sich außerhalb der Feststellung des Bilanzgewinns im Rahmen der Gewinnermittlung stellen, sei allein die tatsächlich bestehende objektive Rechtslage maßgeblich. Allein deshalb sei weder der Steuerpflichtiger noch die Finanzverwaltung an eine zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar erscheinende der Steuererklärung zugrunde liegende Rechtsauffassung gebunden. Das gilt auch für Rechtsfragen, die – auch wenn sie die Bilanzansätze an sich nicht berühren – mit Bilanzierungsfragen in Zusammenhang stehen können, wie beispielsweise solche in Zusammenhang mit der Nichtabziehbarkeit von Betriebsausgaben, mit der Erfassung von Übernahmegewinnen gemäß § 12 Abs. 2 des Umwandlungssteuergesetzes 1995 oder mit verdeckten Gewinnausschüttungen i.S. von § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG 1996. Ein überzeugender Grund dafür, unterschiedliche Beurteilungsmaßstäbe anzusetzen, je nach dem ob sich ein gewinnrelevanter Vorgang innerhalb oder außerhalb der Bilanz vollzieht, bestehe daher nicht.
Die Anwendung des sog. subjektiven Fehlerbegriffs erhöhe das Konfliktpotential zwischen Steuerpflichtigem und Finanzverwaltung, so der I. Senat. Ein entscheidender Nachteil der Erstreckung des sog. subjektiven Fehlerbegriffs auf die Beurteilung bilanzrechtlicher Zweifelsfragen liege darin, dass sie bei konsequenter Befolgung im Verhältnis zwischen Steuerpflichtigem und Finanzverwaltung zu einer Waffenungleichheit zu Lasten der Finanzverwaltung führe und einer ausgewogenen Rechtsfortbildung im Bilanzsteuerrecht hinderlich sei.
Fazit
Die Beantwortung der Vorlagefrage hat weitreichende Konsequenzen. Zu bedenken ist, dass sie sich auch auf die Beurteilung der Fälle auswirkt, in denen die Bilanz auf der Basis einer bislang von der BFH-Rechtsprechung gebilligten Bilanzierungspraxis bzw. Verwaltungsauffassung aufgestellt worden ist, der BFH diese Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Bilanzaufstellung jedoch ändert.
Der vorlegende Senat hat dies gesehen. Er ist allerdings der Auffassung, dass diese Konsequenz kein triftiger Grund ist, von der vorgeschlagenen Aufgabe des subjektiven Fehlerbegriffs für die Beurteilung bilanzrechtlicher Fragen abzusehen, zumal die Änderung einer bisher von der Verwaltung angewendeten höchstrichterlichen Rechtsprechung nach der Vertrauensschutzregel des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden darf.
Wie der Große Senat des BFH die Vorlagefrage beantworten wird, bleibt mit Spannung abzuwarten.
Auszeichnungen
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„Häufig empfohlen wird Andreas Jahn, Steuerrecht“(JUVE Handbuch Wirtschaftskanzleien 2022/2023)
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„Häufig empfohlen wird Andreas Jahn, Steuerrecht“(JUVE Handbuch Wirtschaftskanzleien 2017-2021)
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