01.04.2012 -

Mit der neuen Urlaubsrechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei dauerhafter Erkrankung von Arbeitnehmern hatten wir uns bereits mehrfach befasst. Das Bundesarbeitsgericht hatte nun weitere offene Fragen zu klären. Für die Praxis von besonderer Relevanz ist vor allem die Frage, ob nur der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch von 20 Tagen übertragen wird oder aber auch ein weitergehender einzelvertraglicher und/oder tarifvertraglicher Mehrurlaubsanspruch. Das Bundesarbeitsgericht hat die Regeln, wonach diese Frage zu klären ist, nunmehr präzisiert (BAG, Urteil v. 12.04.2011 – 9 AZR 80/10). Welche Spielregeln aktuell gelten, soll nachfolgend dargestellt werden.

Der Fall (verkürzt):

Der schwerbehinderte Arbeitnehmer war bei dem beklagten Arbeitgeber bereits seit 1975 im Bereich der Wartung beschäftigt. Die Rechte bestimmten sich nach einem Manteltarifvertrag (MTV DHL Boden). Dort heißt es zum Urlaubsanspruch u.a.:

§ 32 Erholungsurlaub

1. Jeder Mitarbeiter hat in jedem vom 1. Januar bis 31. Dezember laufenden Urlaubsjahr Anspruch auf Erholungsurlaub, der möglichst zusammenhängend zu nehmen und zu gewähren ist.

§ 37 Verfallen und Übertragung des Urlaubsanspruchs

1. Nicht genommener Erholungsurlaub verfällt ohne Anspruch auf Abgeltung am 31. März des folgenden Jahres, frühestens jedoch sechs Monate nach Beendigung der Wartezeit.

2. Hat jedoch der Mitarbeiter den Anspruch auf Urlaub erfolglos geltend gemacht, so ist ihm der Urlaub nachzugewähren.

Der Urlaubsanspruch beträgt nach § 32 Abs. 3 MTV ab dem fünften Jahr der Beschäftigung 30 Urlaubstage.

Im Jahre 2007 gewährte der beklagte Arbeitgeber dem Kläger 14 Urlaubstage. Danach war der Kläger vom 28. Juli 2007 bis zum 30. April 2008 arbeitsunfähig erkrankt. Er verlangte über seinen Prozessbevollmächtigten, dass der Arbeitgeber einen Urlaubsanspruch in Höhe von 21 Resturlaubstagen bestätigt. Ihm stehe aus dem Jahr 2007 ein Gesamturlaubsanspruch von 35 Urlaubstagen zu. 14 Urlaubstage habe er genommen. Damit verblieben noch 21 Tage, nämlich fünf Tage Zusatzurlaub für Schwerbehinderte nach § 125 SGB IX, sechs Tage gesetzlicher Mindesturlaub sowie zehn Tage tariflicher Mehrurlaub. Wegen seiner Krankheit seien diese Urlaubsansprüche auch nicht verfallen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat hingegen der Klage stattgegeben.

Der Arbeitgeber gewährte daraufhin weitere elf Tage (fünf Tage Zusatzurlaub und sechs Tage gesetzlichen Mindesturlaub). Im Revisionsverfahren wurde dann nur noch eingewandt, es bestehe jedenfalls kein Anspruch mehr auf Resturlaub von zehn Arbeitstagen für nicht gewährten tariflichen Mehrurlaub.

Die Entscheidung:

Im Revisionsverfahren hat das Bundesarbeitsgericht auch dem Anspruch auf weitere zehn Arbeitstage tariflichen Mehrurlaubs stattgegeben.

I. Neue Rechtsprechung

Nach der neuen Rechtsprechung des EuGH und der sich anschließenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts verfällt Urlaub nicht mehr zum Ablauf der Übertragungs- und Verfallsfristen, wenn der Arbeitnehmer dauerhaft erkrankt ist. Damit ist der Urlaub des Klägers aus dem Jahre 2007 nicht zum 31. März 2008 verfallen. Er konnte den Urlaub wegen seiner Arbeitsunfähigkeit nicht bis zum 31. März 2008 antreten. Nach der Rechtsprechung und dem neuen Urlaubsrecht führt die fortdauernde Arbeitsunfähigkeit zur weiteren automatischen Übertragung des gesetzlichen Mindesturlaubs und hindert so dessen Verfall.

II. Übertragung nur des gesetzlichen Mindesturlaubs

Die neue Rechtsprechung gilt grundsätzlich nur für den gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen bzw. vier Wochen. Tariflicher oder einzelvertraglicher Mehrurlaub wird nicht erfasst.

Aber: Das Bundesarbeitsgericht hat nun nochmals bekräftigt, dass auch der Mehrurlaub dann übertragen wird, wenn eine Differenzierung zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und dem tariflichen Mehrurlaub nicht erkennbar ist. Jede Urlaubsregelung ist daher daraufhin zu überprüfen, ob eine Abweichung vom so genannten gesetzlichen Urlaubsregime besteht. Ist dies nicht der Fall, wird auch der über 20 Tage hinausgehende Mehrurlaub erfasst und übertragen. Bei mehrjähriger Erkrankung kann sich dies durchaus gravierend bemerkbar machen.

Hinweis für die Praxis:

Das Bundesarbeitsgericht hat bereits entschieden, dass in jedem Fall der gesetzliche Zusatzurlaub für Schwerbehinderte übertragen wird. Dieser Zusatzurlaub nach § 125 SGB IX wird nicht gekürzt und wird bei dauerhafter Erkrankung, wie der gesetzliche Mindesturlaub, in jedem Fall fortgeschrieben.

III. Voraussetzungen für ein eigenständiges Urlaubsregime

Das Bundesarbeitsgericht verlangt deutliche Anhaltspunkte für eine Unterscheidung zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen tarifvertraglichen Urlaubsansprüchen. Eine Aufhebung des gesetzlichen Urlaubsregims sei dann anzunehmen, wenn der Tarifvertrag zwar nicht zwischen gesetzlichem Urlaub und tariflichem Mehrurlaub unterscheide, die Auslegung aber einen eigenständigen vom Bundesurlaubsgesetz abweichenden Regelungswillen ergebe. Dies sei anzunehmen, wenn der Tarifvertrag wesentlichvon § 7 Abs. 3 BUrlG abweichende Übertragungs- und Verfallsregeln bestimme.

Folgende Abweichungen sind noch nicht ausreichend: So genügt es nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts nicht, wenn der Tarifvertrag vom Zwölftelungsprinzip des § 5 BUrlG abweiche. Es genüge auch nicht, wenn der Tarifvertrag für die Übertragung des Anspruchs auf betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende rechtfertigende Gründe verzichte.

Entscheidend ist damit, ob vom Fristenregime des Bundesurlaubsgesetzes abgewichen oder zumindestens durch die Differenzierung zwischen Mindest- und Mehrurlaub erkennbar gemacht wird, dass der Arbeitnehmer für den Mehrurlaub das Verfallsrisiko tragen soll.

Hinweis für die Praxis:

Es ist offen, woher der 9. Senat diese Differenzierungen ableitet. Offen ist auch, warum die Abweichung von § 7 Abs. 3 BUrlG wesentlich sein muss. Eine Vielzahl von Tarifverträgen wird jetzt beleuchtet werden müssen.

Fazit:

Im konkreten Fall waren die Abweichungen im MTV nicht wesentlich genug. Die Differenzierung reichte nicht aus, so dass der volle Urlaubsanspruch ungekürzt übertragen wurde. Aber: Nach seiner Genesung greifen dann wieder die üblichen Verfalls- und Übertragungsregeln. Kehrt ein Mitarbeiter also nach dauerhafter Arbeitsunfähigkeit wieder in den Betrieb zurück, muss er dann auch im laufenden Urlaubsjahr, spätestens innerhalb der Übertragungsfristen, seine angesammelten Urlaubsansprüche realisieren. Hätte er den Urlaub nehmen können, hat dies aber tatsächlich nicht getan, verfallen die Urlaubsansprüche in voller Höhe. Dies gilt freilich nur für die erfüllbaren Urlaubsansprüche. Hat der Arbeitnehmer mehr Urlaubstage als er innerhalb der Übertragungsfristen nehmen könnte, wird der insoweit übersteigende Restbetrag auch in das Folgejahr voll übertragen. Kürzere tarifvertragliche Ausschlussfristen finden im laufenden Arbeitsverhältnis dabei keine Anwendung. Ausschlussfristen greifen nicht für Urlaubsansprüche. Hier ist das Bundesurlaubsgesetz lex specialis. Ausschlussfristen greifen aber für Urlaubsabgeltungsansprüche, die nichts anderes als Zahlungsansprüche bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses sind (dazu jetzt auch ausdrücklich BAG, Urteik v. 09.08.2011 – 9 AZR 352/10, abrufbar unter www.bundesarbeitsgericht.de).

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