29.08.2012 -

Die Frage nach der Schwerbehinderung wird meist mit dem Hinweis, dies könne diskriminierend sein, für unzulässig gehalten. Viele Arbeitsrechtler warnen sogar davor. Dieser zutreffende Grundsatz wurde nun vom Bundesarbeitsgericht teilweise relativiert. In einer aktuellen Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht klargestellt, dass die Frage nach der Schwerbehinderung im bestehenden Arbeitsverhältnis grundsätzlich zulässig ist (BAG, Urteil v. 16.02.2012 – 6 AZR 553/10). Nachfolgend sollen die Kernaussagen dieser Grundsatzentscheidung im Einzelnen für die betriebliche Praxis dargestellt werden.

Der Fall:

Der mit einem Grad der Behinderung von 60 schwerbehinderte Kläger befand sich in einem befristeten Arbeitsverhältnis vom 1. November 2007 bis zum 31. Oktober 2009. Über das Vermögen des Arbeitgebers (Schuldner) wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Der vorläufige Insolvenzverwalter gab zur Vervollständigung bzw. Überprüfung der Sozialdaten an sämtliche Arbeitnehmer Fragebögen aus. Erfragt wurden das Geburtsdatum, der Familienstand, die Anzahl der unterhaltspflichtigen Kinder sowie das Vorliegen einer Schwerbehinderung bzw. die Gleichstellung mit einem Schwerbehinderten.

Der Kläger antwortete in den Feldern „Schwerbehinderung“ und „Gleichstellung“ jeweils mit „nein“.

Auf der Grundlage eines Interessenausgleichs mit Namensliste kündigte der Beklagte (Insolvenzverwalter) das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. Juni 2009. Der Kläger teilte in der Klageschrift seine Schwerbehinderung mit und vertrat die Ansicht, die ohne Beteiligung des Integrationsamtes erklärte Kündigung sei unwirksam. Die Frage nach der Schwerbehinderung stelle eine verbotene Benachteiligung im Sinne der §§ 1, 7 AGG dar. Ein Arbeitnehmer habe deshalb während des gesamten Arbeitsverhältnisses ein Recht zur wahrheitswidrigen Beantwortung der Frage nach seiner Schwerbehinderteneigenschaft. Eine Offenbarungspflicht bestehe ebenfalls nicht.

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat im Berufungsverfahren hingegen die Klage abgewiesen.

Die Entscheidung:

Das Bundesarbeitsgericht hat im Revisionsverfahren die Kündigung bestätigt und die Berufung zurückgewiesen.

I. Pflicht zur wahrheitsgemäßen Beantwortung

Der Arbeitgeber hat im bestehenden Arbeitsverhältnis ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der Frage nach einer Schwerbehinderteneigenschaft. Diese Frage steht im Zusammenhang mit seiner Pflichtenbindung durch das Erfordernis, bei der Sozialauswahl gem. § 1 Abs. 3 KSchG die Schwerbehinderung zu berücksichtigen sowie den Sonderkündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX zu beachten. Dem Arbeitgeber ist ein rechtstreues Verhalten zu ermöglichen. Zahlreiche Pflichten sind ihm in diesem Zusammenhang auferlegt: Pflicht zur behinderungsgerechten Beschäftigung (§ 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX), Zahlung einer Ausgleichsabgabe (§ 77 SGB IX) und Gewährung von Zusatzurlaub (§ 125 SGB IX).

II. Negativattest nicht ausreichend

Dem Arbeitgeber stehen auch nicht andere, gleich geeignete und gleich zuverlässige Möglichkeiten zur Verfügung, sich die erforderliche Kenntnis über die Schwerbehinderteneigenschaft rechtssicher zu verschaffen. Insbesondere kann der Arbeitgeber nicht auf die Einholung eines so genannten Negativattestes verwiesen werden. Würde man dieser Ansicht folgen, müsste der Arbeitgeber vor jeder von ihm beabsichtigten Kündigung ein Negativattest einholen. Dies würde zu unzumutbaren Verzögerungen, insbesondere bei Massenentlassungen, führen. Zudem kann jeder Arbeitnehmer als Beteiligter des Verwaltungsverfahrens, das zum Negativattest führt, Widerspruch bzw. Anfechtungsklage erheben. Auch dies würde das Verfahren und die Möglichkeit des Arbeitgebers, rechtssicher eine Kündigung auszusprechen, erheblich hinauszögern.

III. Keine Diskriminierung

Die Frage nach der Schwerbehinderung im Vorfeld einer Kündigung diskriminiert den Arbeitnehmer auch nicht wegen seiner Behinderung gem. § 3 Abs. 1 S. 1 AGG. Die Frage dient gerade der Wahrung der Rechte und Interessen des Schwerbehinderten, nicht aber dazu, ihn gegenüber nicht behinderten Arbeitnehmern zurückzusetzen. Die Belange des schwerbehinderten Menschen sollen durch § 1 Abs. 3 KSchG sowie in dem nach §§ 85 ff. SGB IX einzuhaltenden Verfahren gewahrt werden. Dies setzt aber voraus, dass der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft Kenntnis hat oder zumindest die Möglichkeit hat, sich diese durch Nachfrage zu verschaffen.

Hinweis für die Praxis:

Das Bundesarbeitsgericht hat in diesem Zusammenhang sehr ausführlich darauf hingewiesen, dass auch datenschutzrechtliche Belange und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Frage nach der Schwerbehinderung nicht entgegenstehen.

IV. Widersprüchliches Verhalten

In Folge der wahrheitswidrigen Beantwortung der rechtmäßig gestellten Frage nach der Schwerbehinderung ist es daher dem Arbeitnehmer und Kläger im vorliegenden Verfahren unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhaltens verwehrt gewesen, sich auf seine Schwerbehinderteneigenschaft zu berufen (Treu und Glauben nach § 242 BGB). Der Arbeitnehmer hatte die Frage nach seiner Schwerbehinderung mit „nein“ beatwortet und den Arbeitgeber daher in seinem Glauben darin bestärkt, ohne Beteiligung des Integrationsamtes kündigen zu können. In einem solchen Fall ist die Ausnutzungder durch das widersprüchliche Verhalten geschaffenen Rechtslage wegen der Rechtsüberschreitung unzulässig. Bliebe das Verhalten des Arbeitnehmers hier folgenlos, würde das Arbeitsverhältnis aufgrund seiner Schwerbehinderung länger fortbestehen als das eines nicht behinderten, ansonsten vergleichbaren Arbeitnehmers oder auch eines Schwerbehinderten, der seine Schwerbehinderung offen gelegt hätte. Eine derartige Bevorzugung ist aber nicht Zweck des Sonderkündigungsschutzes, der nur dem Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile dient.

Fazit:

Das Bundesarbeitsgericht hat die Rechtsprechung zur Frage nach der Schwerbehinderung angemessen fortentwickelt. Im bestehenden Arbeitsverhältnis ist nach Ablauf der Probezeit die Frage nach der Schwerbehinderung zuzulassen. Dem Arbeitgeber ist ein rechtstreues Verhalten zu ermöglichen. Die Frage ist daher zulässig, nicht diskriminierend und verstößt auch nicht gegen Datenschutzrecht und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

Aber: Vor Abschluss des Arbeitsvertrages ist die Frage weiterhin unzulässig! Die Rechte und Pflichten aus § 1 Abs. 3 KSchG bzw. nach den §§ 85 ff. SGB IX entstehen erst nach Abschluss des Arbeitsvertrages. Wird ein Bewerber nach seiner (Schwer)Behinderung gefragt, stellt dies eine unzulässige Diskriminierung dar!

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