14.10.2012 -

Der Schwerbehindertenvertretung stehen nach § 95 SGB IX spezielle Rechte zu. Relevant ist vor allem die Unterrichtungs- und Anhörungspflicht nach § 95 Abs. 2 S. 1 SGB IX. Das Bundesarbeitsgericht hatte nun zu entscheiden, ob der Abschluss eines Aufhebungsvertrages mit einem schwerbehinderten Menschen erst dann zulässig ist, wenn vorher die Schwerbehindertenvertretung angehört worden ist und ob im Falle der Missachtung dieser Pflicht dem Schwerbehindertenvertreter sogar ein Unterlassungsanspruch zusteht (BAG, Beschluss v. 14.03.2012 – 7 ABR 67/10).

Der Fall:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Schwerbehindertenvertreter gegenüber der Arbeitgeberin einen Anspruch auf Unterlassung des Abschlusses von Aufhebungsverträgen mit schwerbehinderten Menschen hat, wenn er nicht zuvor unterrichtet und angehört worden ist.

Die Arbeitgeberin betreibt städtische Krankenhäuser. Sie schloss im Frühjahr 2009 einen Aufhebungsvertrag mit einer schwerbehinderten Mitarbeiterin ab, ohne den Schwerbehindertenvertreter davon vorher unterrichtet und angehört zu haben. Sie bestritt auch eine entsprechende Verpflichtung.

Der Schwerbehindertenvertreter leitete daraufhin ein Beschlussverfahren ein. Er vertritt die Auffassung, er sei beim Abschluss eines Aufhebungsvertrages zu beteiligen. Dieser Anspruch könne nur durch einen allgemeinen Unterlassungsanspruch gesichert werden.

Das Arbeitsgericht hat dem Unterlassungsantrag sowie dem Antrag auf Androhung von Ordnungsgeld und Ordnungshaft stattgegeben.

Die Entscheidung:

Im Sprungrechtsbeschwerdeverfahren hat das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung des Arbeitsgerichts aufgehoben und die Anträge des Schwerbehindertenvertreters umfassend abgewiesen.

I. Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung

Der Arbeitgeber hat nach § 95 Abs. 2 S. 1 SGB IX die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Damit normiert die Bestimmung zwei Verpflichtungen des Arbeitgebers, die sich nach Inhalt, Umfang und Zeitpunkt voneinander unterscheiden.

1. Unterrichtungspflicht

Zum einen wird vom Arbeitgeber verlangt, die Schwerbehindertenvertretung umfassend zu informieren. Gegenstand der Unterrichtung sind alle Angelegenheiten, die einen Einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren. Der weitgefasste Anspruch erstreckt sich nicht nur auf einseitige Maßnahmen des Arbeitgebers, sondern auf alle Angelegenheiten, die sich spezifisch auf schwerbehinderte Menschen auswirken. Die Unterrichtungspflicht besteht allerdings dann nicht, wenn die Angelegenheit die Belange schwerbehinderter Menschen in keiner anderen Weise berührt als nicht schwerbehinderte Beschäftigte.

Inhalt der Verpflichtung ist die Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung. Der Arbeitgeber muss daher die zu der Angelegenheit gehörenden Informationen geben. Die Unterrichtung muss „umfassend“ sein. Ferner hat die Unterrichtung „unverzüglich“ zu erfolgen. Der Arbeitgeber muss daher die Schwerbehindertenvertretung über eine die schwerbehinderten Menschen berührende Angelegenheit informieren, sobald er davon Kenntnis erlangt und ihm die Unterrichtung ohne schuldhaftes Zögern möglich ist.

Hinweis für die Praxis:

Aber: Dieser Zeitpunkt kann je nach den Umständen vor oder nach dem Abschluss der Angelegenheit liegen, wie das Bundesarbeitsgericht betont.

2. Anhörungspflicht

Zum anderen hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in Angelegenheiten, die einen Einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, vor einer Entscheidung anzuhören. Diese Verpflichtung unterscheidet sich von der Pflicht zur Unterrichtung. Sie geht insofern darüber hinaus, als die Anhörung regelmäßig eine entsprechende Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung voraussetzt, sich darin aber nicht erschöpft, sondern darüber hinaus verlangt, dass dem Schwerbehindertenvertreter Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird und der Arbeitgeber eine entsprechende Stellungnahme auch zur Kenntnis nimmt. Die Anhörungspflicht bezieht sich nicht auf sämtliche, die schwerbehinderten Menschen betreffenden Angelegenheiten, sondern nur auf die diesbezüglichen Entscheidungen des Arbeitgebers. Entscheidungen in diesem Sinne sind die einseitigen Willensakte des Arbeitgebers. Der Schwerbehindertenvertretung soll die Möglichkeit gegeben werden, an der Willensbildung des Arbeitgebers mitzuwirken und den Arbeitgeber aus ihrer fachlichen Sicht auf mögliche, ggf. nicht bedachte Auswirkungen seiner Entscheidung hinzuweisen. Anders als die Unterrichtung hat die Anhörung nicht „unverzüglich“, sondern „vor“ der Entscheidung zu erfolgen. Der Arbeitgeber genügt daher seiner Pflicht zur Anhörung nicht, wenn er die Schwerbehindertenvertretung erst nach der Entscheidung anhört. Dies macht auch § 95 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 SGB IX deutlich.

II. Abschluss eines Aufhebungsvertrages

Der Abschluss eines Aufhebungsvertrages mit einem schwerbehinderten Menschen ist zwar eine „Angelegenheit“, aber keine „Entscheidung“ im Sinne des § 95 Abs. 2 S. 1 SGB IX.

1. Angelegenheit

Der Abschluss eines Aufhebungsvertrages mit einem schwerbehinderten Menschen ist eine Angelegenheit, die einen einzelnen schwerbehinderten Menschen oder auch die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berührt. So wird z.B. durch das Ausscheiden eines schwerbehinderten Menschen unmittelbar die vom Arbeitgeber zu erfüllende Pflichtquote berührt. Der Arbeitgeber hat daher die Schwerbehindertenvertretung über den Abschluss eines solchen Aufhebungsvertrages zu unterrichten. Dies hat er unverzüglich zu tun. Der konkrete Zeitpunkt richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Wird ein Aufhebungsvertrag mit einem schwerbehinderten Menschen ohne eine entsprechende Vorbereitung spontan geschlossen, wird eine Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung regelmäßig erst nachträglich erfolgen können. Insbesondere ist der Arbeitgeber wegen seiner Pflicht zur unverzüglichen Unterrichtung nicht verpflichtet, mit dem Abschluss des Aufhebungsvertrages abzuwarten.

Hinweis für die Praxis:

Führt der Arbeitgeber dagegen mit dem schwerbehinderten Menschen über einen bestimmten Zeitraum Vertragsverhandlungen über den Abschluss eines Aufhebungsvertrages, kann darin möglicherweise bereits eine Angelegenheit liegen, hinsichtlich derer die Schwerbehindertenvertretung zu unterrichten ist. In solchen Fällen sollte die Schwerbehindertenvertretung informatorisch informiert werden.

2. Entscheidung

Der Abschluss eines Aufhebungsvertrages ist aber keine „Entscheidung“ im Sinne des § 95 Abs. 2 S. 1 SGB IX. Der Vertragsschluss ist kein einseitiger Willensakt des Arbeitgebers. Daher ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung vor dem Abschluss eines Aufhebungsvertrages anzuhören.

Fazit:

Das Bundesarbeitsgericht hat deutlich gemacht, dass der Schwerbehindertenvertretung keine Unterlassungsansprüche zustehen, wenn sie bei Abschluss von Aufhebungsverträgen mit schwerbehinderten Menschen nicht angehört werden. Der Arbeitgeber hat aber die Schwerbehindertenvertretung über den Abschluss des Aufhebungsvertrages zu unterrichten. Der Zeitpunkt der Unterrichtung hängt vom Einzelfall ab. Bei spontanen Aufhebungsverträgen reicht es aus, wenn die Schwerbehindertenvertretung nachträglich informiert wird. Bei längeren Vertragsverhandlungen ist die Schwerbehindertenvertretung begleitend zu unterrichten.

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