11.09.2013 -

Die neue Rechtsprechung zum Urlaubsrecht, insbesondere bei dauerhafter Arbeitsunfähigkeit, hatten wir in den vergangenen Monaten schon mehrfach behandelt und vorgestellt. Bislang offen geblieben war die Frage, in welchem Umfange ein Arbeitgeber Urlaubsansprüche erfüllt: Zunächst den gesetzlichen Mindesturlaub oder aber vorrangig den übergesetzlichen Mehrurlaub? Das Bundesarbeitsgericht hatte sich mit diesen Fragen nun in einer aktuellen Entscheidung zu befassen (BAG, Urteil v. 07.08.2012 – 9 AZR 760/10). Die neuen Regeln und die damit verbundenen Anforderungen an die Vertragsgestaltung möchten wir nachfolgend für die Praxis vorstellen.

Der Fall (verkürzt):

Die klagende Arbeitnehmerin war vom 1. Februar 1986 bis zum 28. Februar 2009 bei dem beklagten Arbeitgeber als Büroangestellte beschäftigt und im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche mit den Aufgaben einer Sachbearbeiterin für die Lohn- und Gehaltsabrechnungen betraut. Auf das Arbeitsverhältnis fand aufgrund vertraglicher Bezugnahme der geltende Manteltarifvertrag für das Installateur- und Heizungsbauer, Klempner-, Behälter- und Apparatebauer Handwerk im Land Nordrhein-Westfalen Anwendung. Der Urlaubsanspruch beträgt nach diesem Tarifvertrag für alle Arbeitnehmer 30 Arbeitstage (§ 8 MTV).

Der Arbeitgeber gewährte der Arbeitnehmerin im Jahre 2007 15 Tage Urlaub. Vom 29. April 2008 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses (28. Februar 2009) war die Klägerin durchgehend arbeitsunfähig krank. Sie verlangte von ihrem Arbeitgeber im Rahmen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Erfolg die Abgeltung von restlichen 15 Urlaubstagen lediglich für das Jahr 2007.

Sie hat hierbei behauptet, für die bereits gewährten 15 Urlaubstage im Jahre 2007 sei keine Tilgungsbestimmung getroffen worden. Es finde daher die spezielle Regelung des § 366 Abs. 2 BGB Anwendung mit dem Ergebnis, dass mit der Gewährung von 15 Urlaubstagen zunächst der tarifliche Mehrurlaubsanspruch von 10 Urlaubstagen und dann erst der gesetzliche Urlaubsanspruch in Höhe von zunächst fünf Urlaubstagen erfüllt worden sei. Demzufolge habe der Arbeitgeber von den grundsätzlich 20 Tagen gesetzlichen Urlaub erst fünf Tage gewährt und es seien noch 15 Tage gesetzlicher Urlaub aus dem Jahre 2007 abzugelten.

Der Arbeitgeber hat hingegen vorgetragen, mit der Freistellung der Klägerin für 15 Urlaubstage im Jahre 2007 sei zunächst der gesetzliche Urlaubsanspruch erfüllt worden. Die Regelung des § 366 BGB sei im Übrigen weder direkt noch analog anwendbar.

Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und der Klägerin Urlaubsabgeltung für fünf Tage gesetzlichen Resturlaub aus dem Jahre 2007 zugesprochen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und den beklagten Arbeitgeber zur Abgeltung weiterer zehn Urlaubstage aus dem Jahre 2007 verurteilt.

Die Entscheidung:

Im Revisionsverfahren hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt, dass der Arbeitgeber lediglich fünf Tage gesetzlichen Urlaub abzugelten hat und damit die Entscheidung des Arbeitsgerichts wieder hergestellt.

I. Anwendung des § 366 BGB?

Die Vorschrift des § 366 Abs. 2 BGB hat folgenden Wortlaut:

Trifft der Schuldner keine Bestimmung, so wird zunächst die fällige Schuld, unter mehreren fälligen Schulden diejenige, welche dem Gläubiger geringere Sicherheit bietet, unter mehreren gleichsicheren die dem Schuldner lästigere, unter mehreren gleich lästigen die ältere Schuld und bei gleichem Alter jede Schuld verhältnismäßig getilgt.“

In Literatur und Rechtsprechung war bislang im Hinblick auf die Urlaubsgewährung stark umstritten, inwieweit diese Regelung Anwendung findet. Vielfach wurde vertreten, für den Arbeitgeber sei der gesetzliche Urlaub die lästigere Schuld und daher leiste er Urlaub, auch wenn keine spezielle Regelung getroffen werde, zunächst auf den gesetzlichen Urlaub von 20 Tagen. Andere haben auf die Sicht des Arbeitnehmers abgestellt und sich dafür ausgesprochen, dass zunächst der unsicherere Anspruch des freiwilligen Mehrurlaubs in Anspruch genommen werde.

Das Bundesarbeitsgericht hat sich nun keiner dieser Auffassungen angeschlossen. Ein Rückgriff auf die Auslegungsregel des § 366 Abs. 2 BGB komme nicht in Betracht, weder direkt noch analog. Die Anwendungsvoraussetzungen der Vorschrift seien nicht erfüllt. Die Norm regele den Fall, dass der Schuldner (= Arbeitgeber) dem Gläubiger (= Arbeitnehmer) aus mehreren Schuldverhältnissen zu gleichartigen Leistungen verpflichtet sei und das von ihm Geleistete zur Tilgung sämtlicher Schulden nicht ausreiche. Voraussetzung ist mithin nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts eine Mehrheit von Schuldverhältnissen. Bei gesetzlichen und tarif- oder arbeitsvertraglichen Urlaubsansprüchen handelt es sich aber nach Meinung des Bundesarbeitsgerichts gerade nicht um selbständige Urlaubsansprüche und damit um eine Mehrheit von Schuldverhältnissen. Es handelt sich vielmehr um einen einheitlichen Anspruch auf Erholungsurlaub, der lediglich auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen beruhe.

Hinweis für die Praxis:

Bei unterschiedlichen Urlaubsansprüchen gilt dies aber nicht. Ansprüche z.B. auf Bildungs- oder Sonderurlaub nach speziellen Gesetzen behandeln nicht den Anspruch auf Erholungsurlaub, sondern weitergehende Ansprüche. In solchen Konstellationen kann die Tilgungsregelung des § 366 Abs. 2 BGB angewandt werden.

II. Lösung im konkreten Fall

Der Arbeitgeber hatte im konkreten Fall bereits 15 Tage Urlaub gewährt. Er hatte dabei nicht zum Ausdruck gebracht, ob er diese 15 Tage auf den gesetzlichen Mindesturlaub oder aber auf den tariflichen Mehrurlaub anrechnen möchte. Die Arbeitnehmerin ist Ende Februar 2009 aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Zu diesem Zeitpunkt waren übertarifliche Urlaubsansprüche bereits sowohl nach dem Tarifvertrag als auch nach dem neuen Urlaubsrecht für Dauerkranke verfallen. Es konnte also rein gedanklich nur der gesetzliche Urlaubsanspruch übrig bleiben. Der Arbeitgeber hatte aber 15 Tage Urlaub schon gewährt, so dass nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts ohnehin nur noch rein gedanklich fünf Urlaubstage verbleiben konnten. In eben dieser Höhe von fünf Urlaubstagen wurde daher der Arbeitgeber zur weiteren Urlaubsabgeltung verurteilt.

Hinweis für die Praxis:

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts macht deutlich, dass bei fehlenden Tilgungsbestimmungen die Regelung des § 366 BGB keine Anwendung findet. Arbeitgeber sollten aber grundsätzlich ein Interesse daran haben, zunächst auf den gesetzlichen Urlaub zu leisten, da dieser in jedem Fall erfüllt werden muss. Für die Arbeitsvertragsgestaltung empfiehlt es sich daher, eine konkrete Tilgungsbestimmung aufzunehmen, um so Unklarheiten zu vermeiden. Das Bundesarbeitsgericht hat ausdrücklich klargestellt, dass einzelvertragliche Tilgungsbestimmungen möglich und zulässig sind.

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