25.09.2013 -

Das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) sieht die zwingende Vorlagepflicht einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erst am vierten Kalendertag vor, § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG. Entsprechende Regelungen existieren auch in vielen Tarifverträgen. Der Arbeitgeber kann die Vorlage einer AU-Bescheinigung bereits am ersten Krankheitstag verlangen. Einer besonderen Begründung bedarf es dazu nicht. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hatte nun die Frage zu klären, ob der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG (Ordnungsverhalten) mitzubestimmen hat, wenn der Arbeitgeber die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits am ersten Krankheitstag fordert und welche Regeln hier zu beachten sind (LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 19.06.2012 – 3 TaBV 2149/11).

Der Fall (verkürzt):

Arbeitgeber und Betriebsrat streiten sich über das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG hinsichtlich der Aufforderung des Arbeitgebers an verschiedene Arbeitnehmer, bereits am ersten Krankheitstag Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorzulegen. Nach dem einschlägigen Tarifvertrag war Folgendes geregelt:

In begründeten Fällen ist der Arbeitgeber berechtigt, die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung vom Arbeitnehmer bereits vom ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit an zu verlangen.

Der Arbeitgeber forderte im 4. Quartal 2010 und im 1. Quartal 2011 insgesamt 12 Arbeitnehmer auf, ein ärztliches Attest bereits am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit in Folge von Krankheit vorzulegen. Der Betriebsrat teilte daraufhin dem Arbeitgeber mit, dass die Erteilung von Attestauflagen nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG zustimmungsbedürftig sei und forderte den Arbeitgeber auf, keine weiteren Attestauflagen zu erteilen und die bereits erteilten Attestauflagen aufzuheben, auch gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern.

Der Arbeitgeber antwortete hierauf, die Mitbestimmungsrechte würden schon wegen der Tarifregelung nicht eingreifen. Er sei aber bereit, für die nicht-tarifgebundenen Arbeitnehmer eine kollektive Regelung zu Attestauflagen zu verhandeln.

Der Betriebsrat hat hingegen die Ansicht vertreten, er habe ein Mitbestimmungsrecht gem. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Diesem Mitbestimmungsrecht stehe weder eine gesetzliche noch eine tarifliche Regelung entgegen. § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG und auch der einschlägige Manteltarifvertrag würden keine abschließenden Regelungen beinhalten.

Das Arbeitsgericht hat die Anträge des Betriebsrats zurückgewiesen.

Die Entscheidung:

Im Beschwerdeverfahren hat das Landesarbeitsgericht hingegen den Anträgen des Betriebsrats, den betroffenen Arbeitnehmern mitzuteilen, dass die ihnen erteilten Attestauflagen unwirksam sind, stattgegeben. Stattgegeben wurde auch dem Unterlassungsantrag des Betriebsrats.

I. Allgemeiner Unterlassungsanspruch

Dem Betriebsrat steht unabhängig von den Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 BetrVG bei Verstößen des Arbeitgebers gegen ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 BetrVG ein allgemeiner Unterlassungsanspruch zu. Stellt also das Arbeitsgericht fest, dass der Arbeitgeber die Zustimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG nicht eingeholt hat, kann sich der Betriebsrat dagegen mit einem allgemeinen Unterlassungsanspruch, notfalls im einstweiligen Verfügungsverfahren, zur Wehr setzen.

Hinweis für die Praxis:

Die Rechte des Betriebsrats aus § 87 BetrVG sind erheblich. Ohne Zustimmung des Betriebsrats kann der Arbeitgeber nicht handeln. Der Betriebsrat kann sich im einstweiligen Verfügungsverfahren kurzfristig zur Wehr setzen und jedes Handeln des Arbeitgebers unterbinden. Die Zustimmungsverweigerung bedarf dabei keiner Begründung, anders als z.B. nach § 99 BetrVG. Arbeitgebern kann daher nur dringend empfohlen werden, die Rechte aus § 87 BetrVG umfassend zu beachten und den Betriebsrat ordnungsgemäß und rechtzeitig zu beteiligen.

II. Mitbestimmung bei Pflicht zur Vorlage einer AU-Bescheinigung am ersten Krankheitstag

Die Pflicht zur Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen am ersten Krankheitstag betrifft das Ordnungsverhalten im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Diese Vorlagepflicht betrifft gerade nicht Art und Weise der Arbeitsleistung. Es wird nicht bestimmt, welche Arbeiten in welcher Weise ausgeführt werden sollen. Vielmehr wird den Arbeitnehmern durch die Anweisung vorgegeben, auf welche konkrete Art und Weise sie den Grund einer Fehlzeitgegenüber dem Arbeitgeber zu belegen bzw. nachzuweisen haben. Damit wird das Ordnungsverhalten berührt.

Weitere Voraussetzung für die Mitbestimmungspflicht ist ein kollektiver Tatbestand. Dieser ist vom Einzelfall abzugrenzen. Ein kollektiver Bezug war vorliegend gegeben. Der Arbeitgeber hatte insgesamt 12 Arbeitnehmer in einem kurzen Zeitraum von einem halben Jahr aufgefordert bereits am ersten Krankheitstag Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorzulegen. Damit wurde eine Gruppe von Arbeitnehmern gebildet und für diese Gruppe eine bestimmte Verhaltensanordnung aufgestellt. Unerheblich ist, dass die Anzahl der Fehlzeiten bei den betroffenen Arbeitnehmern nicht stets gleich waren und ferner bei einzelnen Personen noch besondere Auffälligkeiten im Zusammenhang mit der Krankmeldung vorlagen. Trotz dieser Unterschiede betreffen die ergriffenen Maßnahmen nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts keine individuellen Besonderheiten von einzelnen Arbeitsverhältnissen. Vielmehr wird die alle Arbeitnehmer betreffende Regelungsfrage berührt, wie sie sich zu verhalten haben, wenn sie sich für Einzeltage oder Kurzzeiträume krank melden.

III. Kein Ausschluss wegen Gesetzes- bzw. Tarifvorbehalt

Die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats sind nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbsatz BetrVG dann ausgeschlossen, wenn eine gesetzliche oder tarifliche Regelung besteht.

Die Regelung in § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG stellt aber keine das Mitbestimmungsrecht ausschließende Regelung dar, weil es dem Arbeitgeber einen Regelungsspielraum hinsichtlich der Frage eröffnet, ob und wann die Arbeitsunfähigkeit vor dem vierten Tag nachzuweisen ist. Gleiches gilt für die im Manteltarifvertrag vorgesehene Regelung. Dem Arbeitgeber verbleibt weiterhin ein Regelungsspielraum, der Voraussetzung für das Bestehen des Mitbestimmungsrechts ist.

Fazit:

Arbeitgeber können die Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG (Ordnungsverhalten) nur dann ausschließen, wenn die Vorlagepflicht einen konkreten Einzelfall betrifft und nicht eine Gruppe von Arbeitnehmern. Handelt der Arbeitgeber nach einem bestimmten Schema oder stellt bestimmte Verhaltensanordnungen auf, liegt stets ein kollektiver Tatbestand vor, der die Mitbestimmungspflicht auslöst. Der Praxis ist daher zu empfehlen, von solchen Verhaltensanordnungen Abstand zu nehmen und in jedem Einzelfall konkret zu prüfen, ob die Vorlage einer AU-Bescheinigung bereits früher verlangt wird. Denkbar ist auch, hinsichtlich der früheren Vorlagepflicht zu differenzieren, also bspw. nicht schon am ersten Krankheitstag die AU-Bescheinigung zu verlangen sondern erst am zweiten oder dritten.

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