06.07.2014 -

Für Bewerbungsverfahren enthalten die Vorschriften des SGB IX einen umfassenden Pflichtenkatalog, dem entsprechende Rechte der Schwerbehindertenvertretung und einzelner schwerbehinderter Bewerber entnommen werden können. In zahlreichen Entscheidungen hat das Bundesarbeitsgericht bereits klargestellt, dass Verstöße gegen die Vorschriften des SGB IX zu einer Diskriminierung und Entschädigungsansprüchen nach dem AGG führen können. Der 8. Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte nun einen besonderen Fall zu entscheiden. Sowohl der Schwerbehindertenvertreter als auch sein Stellvertreter bewarben sich im Unternehmen auf eine Beförderungsstelle. Wegen der damit verbundenen Interessenkollision hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung „in eigener Sache“ nicht beteiligt. Hierauf gestützt wurde ein Entschädigungsanspruch nach dem AGG wegen Diskriminierung geltend gemacht. Das Bundesarbeitsgericht hat hier klargestellt, dass Schwerbehindertenvertreter auch in eigener Sache beteiligt werden müssen (BAG, Urteil v. 22.08.2013 – 8 AZR 574/12)!

Der Fall:

Der klagende Arbeitnehmer ist seit 1973 Croupier und in der Spielbank des beklagten Arbeitgebers seit dem 1. Januar 1978 beschäftigt, zuletzt als Sous-Chef. Regelmäßig wurde er auch als Tisch-Chef im klassischen Spiel eingesetzt. Sein letztes Bruttogehalt betrug monatlich ca. 3.500,00 €.

Der Kläger ist schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 50. Er ist Stellvertreter des gewählten Schwerbehindertenvertreters.

Ende September 2009 schrieb der beklagte Arbeitgeber zwei Stellen für die Position eines „Tisch-Chefs“ aus, wobei sich die Ausschreibung an weibliche und männliche Mitarbeiter gleichermaßen richtete und als „für Schwerbehinderte geeignet“ bezeichnet wurde.

Der Kläger bewarb sich unter Bezugnahme auf seine Personalakte für eine der ausgeschriebenen Stellen. Auch der Schwerbehindertenvertreter bewarb sich.

An diesen Schwerbehindertenvertreter richtete der Arbeitgeber dann folgendes Schreiben:

Teilnahme an Bewerbungsgesprächen um die Position als Tisch-Chef

Sehr geehrter Herr H.,

wie Ihnen bekannt ist, beabsichtigen wir, die Position Tisch-Chef im klassischen Spiel zu besetzen. Hierauf haben sich auch schwerbehinderte Mitarbeiter, welche derzeit schon im Betrieb beschäftigt sind, beworben.

Wie Ihnen schon mehrfach mitgeteilt, sind wir bis auf weiteres in den Fällen, in denen sich auch Schwerbehinderte auf unsere Ausschreibungen bewerben, grundsätzlich bereit, die Schwerbehindertenvertretung an den Bewerbungsgesprächen teilhaben zu lassen.

Jedoch stellt sich die Situation in diesem Fall deutlich komplizierter dar. Sie selber sowie Ihr Stellvertreter im Amt des Schwerbehindertenvertreters haben sich selbst um die Position Tisch-Chef im klassischen Spiel beworben. Aus unserer Sicht liegt daher eine Interessenkollision vor, aufgrund derer weder Sie noch Ihr Stellvertreter zu beteiligen sind.

Gerne geben wir Ihnen bis Freitag, den 27. November 2009 Zeit, sich zu unserem Standpunkt zu äußern.

Mit freundlichen Grüßen

…“

Der Schwerbehindertenvertreter beantwortete dieses Schreiben nicht. Die Schwerbehindertenvertretung wurde im Bewerbungsverfahren nicht beteiligt.

Der Arbeitgeber informierte den Kläger mit Schreiben vom 27. Mai 2010 darüber, dass seine Bewerbung erfolglos geblieben sei. Hierauf reichte der Kläger fristgerecht Entschädigungsklage bei dem zuständigen Arbeitsgericht ein und hat den Anspruch auf die fehlende Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung gestützt.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat einen Anspruch ebenfalls verneint.

Die Entscheidung:

Im Revisionsverfahren hat das Bundesarbeitsgericht die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen.

I. Diskriminierung

Unterlässt es der Arbeitgeber entgegen § 81 Abs. 1, § 95 Abs. 2 SGB IX die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen, so ist dies nach ständiger Rechtsprechung ein Indiz im Sinne des § 22 AGG, das mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Benachteiligung spricht. Gerade für Bewerbungsverfahren enthalten die Vorschriften des SGB IX einen umfassenden Pflichtenkatalog. Nach § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX muss der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend unterrichten. Sie muss auch bei der Entscheidung über einen beruflichen Aufstieg angehört werden, der Schwerbehindertenvertretung ist die getroffene Entscheidung unverzüglich mitzuteilen. Dies gilt auch, wenn sich ein schwerbehinderter oder gleichgestellter behinderter Mensch um eine Beförderungsstelle bewirbt.

In dem der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung bei dem Auswahlverfahren vorliegend nicht beteiligt hat, ist er diesen gesetzlichen Förderpflichten nicht nachgekommen und hat grundsätzlich die schwerbehinderten Bewerber schlechter gestellt. Zu prüfen war nun aber die Frage, ob durch eine Interessenkollision die Schwerbehindertenvertretung ausnahmsweise nicht beteiligt werden musste.

II. Interessenkollision in eigener Sache?

Gesetzlich ist im Recht der Schwerbehindertenvertretung eine mögliche Interessenkollision durch das SGB IX nicht geregelt. Vorschriften des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens oder des allgemeinen Verwaltungsverfahrens können nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts nicht analog herangezogen werden. Es fehlt dafür an einer Gesetzeslücke. Auch lassen sich nach Ansicht des 2. Senats die zur Frage einer Interessenkollision bei der Arbeit von Betriebsräten erarbeiteten Grundsätze nicht auf die Schwerbehindertenvertretung übertragen. Im Betriebsverfassungsrecht besteht Einigkeit darüber, dass ein Betriebsratsmitglied grundsätzlich von seiner Organtätigkeit ausgeschlossen ist bei Maßnahmen und Regelungen, die es „individuell und unmittelbar betreffen.“ Niemand darf Richter in eigener Sache sein.

Aber: Anders als ein Betriebsrat ist jedoch eine Schwerbehindertenvertretung kein Organ sondern eine „Ein-Personen-Institution“ (§ 94 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Der oder die Stellvertreter treten im Fall der Verhinderung der Vertrauensperson der Schwerbehinderten an deren Stelle. Bereits dies spricht gegen eine Übertragung von Befangenheitsregeln, die für die Mitglieder mehrköpfiger Gremien gelten.

Vor allem aber sprechen Erwägungen der Gesetzessystematik gegen eine Befangenheit der Schwerbehindertenvertretung im Rechtssinne. Die Schwerbehindertenvertretung trifft keine „Entscheidungen“. Sie kann damit schon deshalb nicht „Richter in eigener Sache“ sein, weil ihr weder eine eigene Entscheidungsbefugnis zukommt noch Mitbestimmungsrechte oder Zustimmungserfordernisse – wie beim Betriebsrat – von Gesetzes wegen vorgesehen sind. Es besteht daher nach der geltenden Gesetzeslage kein Bedürfnis, Regeln für den Fall einer Selbstbetroffenheit zu schaffen.

Hinweis für die Praxis:

Auf eine Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung zu verzichten, ist allein einem schwerbehinderten Bewerber möglich. Nach § 81 Abs. 1 S. 10 SGB IX ist die Schwerbehindertenvertretung bei Bewerbungen schwerbehinderter Menschen nur dann nicht zu beteiligen, wenn der schwerbehinderte Mensch die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ausdrücklich ablehnt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Schwerbehindertenvertretung selbst keine Verzichtsmöglichkeit hat.

Fazit:

Der Arbeitgeber muss den Schwerbehindertenvertreter auch dann beteiligen, wenn er „in eigener Sache“ tätig und betroffen ist. Eine Befangenheit oder eine Interessenkollision, wie beim Betriebsrat, besteht im SGB IX nicht. Allein der schwerbehinderte Bewerber kann auf die Beteiligung verzichten. Sowohl die Schwerbehindertenvertretung als auch der Arbeitgeber haben eine solche Verzichtsmöglichkeit nicht. Wird die Schwerbehindertenvertretung wegen fälschlich angenommener Interessenkollision nicht beteiligt, begründet dies grundsätzlich ein Indiz für eine Diskriminierung. Der Arbeitgeber muss dann seine Vorgehensweise rechtfertigen und nachweisen, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutze vor Benachteiligung vorgelegen hat, § 22 AGG.

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