21.08.2014 -

Verzögert eine unterlassene Schnittentbindung die Geburt eines Kindes um ca. 23 Minuten, kann das als grober Behandlungsfehler zu bewerten sein, wenn auffällige Herzfrequenzwerte des Kindes zuvor die ärztliche Entscheidung zu einer alsbaldigen Geburtsbeendigung erfordert hätten. Dies hat das OLG Hamm entschieden.

Der Fall (verkürzt):

Der Kläger ist ein überörtlicher Träger der Sozialhilfe und Kostenträger. Aus übergegangenem Recht begehrte er wegen vermeintlicher geburtshilflicher Behandlungsfehler die umfassende Feststellung, dass die Beklagten ihm sämtliche leistungsrechtlichen Aufwendungen zu ersetzen haben, die ihm als Folge der Geburt des Kindes M entstanden sind oder entstehen werden. Das Kind wurde im Krankenhaus der Beklagten zu 1) geboren. Der Beklagte zu 2) war Chefarzt der geburtshilflichen Abteilung. Im Rahmen des von der Beklagten zu 3) betreuten Geburtsvorganges kam es ab 17:40 Uhr zu kardiotokografischen Auffälligkeiten in Form eines Absinkens der vitalen Herzfrequenz mit regelmäßig auftretenden Dezellerationen. Die Durchführung einer Mikroblutuntersuchung wurde in Betracht gezogen, jedoch abgelehnt. Gegen 18:05 Uhr normalisierten sich die CTG-Werte zeitweilig. Zur Anregung des Geburtsvorgangs wurde die Mutter des Klägers auf einen Geburtshocker gesetzt, was jedoch den Geburtsvorgang nicht beschleunigte. Nachdem es ab 18:20 Uhr wiederum zu einem Absinken der Herzfrequenz kam, wurde versucht, die Geburt im Kreißbett unter Kristellerhilfe herbeizuführen. Letztlich wurde das Kind gegen 18:43 Uhr nach einer Episiotomie spontan geboren. Bei dem Kind liegt eine hypoxisch-ischämische Enzephalopathie mit gravierenden Beeinträchtigungen vor.

Das Landgericht gab der Klage in beschränktem Umfang statt.

Die Entscheidung:

Das OLG hat die gegen den Beklagten zu 2) gerichtete Klage abgewiesen und die übrigen Berufungen mit folgender Begründung zurückgewiesen:

Der Senat sah einen Behandlungsfehler darin, dass es unterlassen worden sei, gegen 17:50 Uhr die Entscheidung zur sofortigen Beendigung der Geburt zu treffen. Das Gericht folgte dabei dem geburtshilflichen Sachverständigen, wonach das Kardiotokogramm ab 17:40 Uhr pathologische Auffälligkeiten auswies. Angesichts des vorangegangenen Geburtsverlaufs erscheine es auch überzeugend, dass gegen 17:50 Uhr die Entscheidung über das weitere Vorgehen hätte getroffen werden müssen, so die Richter. Ferner sei den Beklagten anzulasten, dass sie in dem Zeitraum von 17:50 Uhr bis 18:00 Uhr bei zulässigem Verzicht auf die Mikroblutuntersuchung nicht die dann notwendige Entscheidung zur sofortigen Geburtsbeendigung durch Schnittentbindung getroffen haben. Denn ohne Erkenntnis über den pH-Wert sei ein weiteres Zuwarten wegen der Gefahr der Schädigung des Kindes nicht mehr gerechtfertigt gewesen. Auch der vergebliche Versuch der Förderung der Geburt durch die Anwendung des Geburtshockers sei über den hier gegebenen Zeitraum von 18:05 Uhr bis 18:30 Uhr fehlerhaft gewesen. Nach den Ausführungen des geburtshilflichen Sachverständigen wäre allenfalls ein einziger kurzfristiger Versuch akzeptabel gewesen.

Nach Auffassung des OLG könne dahingestellt bleiben, ob hier schon einzelne der Behandlungsschritte als grobe Fehler zu werten seien. Jedenfalls aber sei bei der notwendigen Gesamtbetrachtung aller Umstände eine grobe Fehlerhaftigkeit anzunehmen.

Bei dem Kind habe eine durch das pathologische CTG vor 17:50 Uhr ausgewiesene Gefährdung vorgelegen. Zudem sei noch nach 18:00 Uhr über ca. 25 Minuten erfolglos der Versuch des Vorantreibens der vaginalen Geburt auf einem Geburtshocker betrieben worden. Sodann sei ab 18:30 Uhr die Entwicklung des Kindes weiter unter Kristellerhilfe im Kreißbett unternommen worden, so dass erst um 18:43 Uhr entbunden worden sei. Auch wenn der Sachverständige die Dramatik der Entwicklung als ex ante nicht erkennbar, das Ergebnis als überraschend und das Abstellen auf die zeitweilig ab 18:05 Uhr verbesserten CTG-Werte jedenfalls für einen Anfänger als nur einfach fehlerhaft angesehen habe, verbleibe es doch andererseits dabei, dass der geburtshilfliche Sachverständige bei seiner mündlichen Anhörung durch den Senat das Unterlassen der Entbindung und die Durchführung völlig anderer Maßnahmen über einen Zeitraum von 18:00 Uhr bis 18:43 Uhr als nicht mehr nachvollziehbar bezeichnet habe.

Nachdem ausweislich des Vorschlags der Hebamme zur Blutgasuntersuchung gerade auch für die Beklagte zu 3) ab 17:50 Uhr ohne die Durchführung einer solchen Untersuchung die Notwendigkeit der Entscheidung zu einer sofortigen Entbindung ersichtlich gewesen sei, habe sich die Dringlichkeit mit jeder weiteren Minute und jedem weiteren vergeblichen Versuch der Förderung der Entbindung gesteigert. Im Ergebnis habe das Nichtangehen der Schnittentbindung über einen so langen Zeitraum den Bereich fachgerechten Verhaltens eindeutig verlassen, sodass das Verhalten aus medizinischer Sicht nicht mehr verständlich sei.

Hinweis für die Praxis:

Ein Behandlungsfehler ist nach der Definition der Rechtsprechung als „grob“ zu beurteilen, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt des entsprechenden Fachs schlechterdings nicht unterlaufen darf.

Die Annahme eines groben Behandlungsfehlers führt grundsätzlich zu einer Umkehr der Beweislast für den Ursachenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden, der ohne die Beweislastumkehr dem Patienten obläge. Falls der grobe Behandlungsfehler als solcher geeignet ist, den eingetretenen Primärschaden (Körper-/Gesundheitsschaden) zumindest mitursächlich herbeizuführen, bleibt es Sache des Arztes zu beweisen, dass die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und dem Eintritt des Primärschadens fehlt bzw. der Kausalzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist.

Fazit:

Die Entscheidung des Gerichts steht im Einklang mit der ober- und höchstgerichtlichen Rechtsprechung. Demnach können auch mehrere einfache Behandlungsfehler im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Behandlungsgeschehens dazu führen, dass das ärztliche Vorgehen zusammen gesehen als grob fehlerhaft zu bewerten ist. Die Behandlungsseite muss dann darlegen und beweisen, dass die festgestellten (einfachen) Behandlungsfehler einzeln oder insgesamt den Primärschaden nicht herbeigeführt haben.

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