24.08.2014 -

Schwerbehinderte Arbeitgeber müssen von öffentlichen Arbeitgebern zwingend zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden, § 82 S. 2 SGB IX. Eine solche Einladung ist nur dann ausnahmsweise entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. Das Bundesarbeitsgericht hatte sich nun mit der speziellen Frage zu befassen, ob die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch nachträglich geheilt werden kann, wenn der öffentliche Arbeitgeber die zunächst unterbliebene Einladung zu einem Vorstellungsgespräch nachholt (BAG, Urteil vom 22.08.2013 – 8 AZR 563/12).

Im Grundsatz sind Korrekturen nicht möglich. Eine Diskriminierung kann nicht nachträglich rückgängig gemacht werden. Dennoch lässt das Bundesarbeitsgericht bestimmte Ausnahmen zu.

Der Fall (verkürzt):

Der klagende Arbeitnehmer ist mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 schwerbehindert. Er ist Industriekaufmann mit mehrjähriger Erfahrung im kaufmännischen Bereich. In der Vergangenheit war er in verschiedenen mittelständischen Unternehmen und auch selbständig tätig.

Das Präsidium für Technik, Logistik und Verwaltung, der interne Dienstleister der Hessischen Polizei, veröffentlichte im Mai 2010 eine Stellenanzeige. Hierauf bewarb sich der schwerbehinderte Kläger. Der Bewerbung fügte er seinen Lebenslauf, diverse Zeugnisse und die Kopie seines Schwerbehindertenausweises bei, wobei er in dem Anschreiben selbst unter Anlagen „Kopie Schwerbehindertenausweis“ aufführte. Unter dem 31. Mai 2010 bestätigte das Präsidium den Eingang der Bewerbung.

Das Präsidium lud zunächst einige Bewerber mit Schreiben vom 5. Juli 2010 zu Vorstellungsgesprächen am 12. Juli 2010 ein. Weitere Vorstellungsgespräche waren für den 19. Juli 2010 geplant, vornehmlich mit schwerbehinderten Bewerbern. Aufgrund einer im Einvernehmen mit der Schwerbehindertenvertretung, dem Personalrat und der Frauenbeauftragten getroffenen Entscheidung der Personalabteilung wurden dann allerdings nicht alle behinderten Bewerber für denselben Tag zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Einladungsschreiben, die an weitere behinderte Bewerber, u.a. den Kläger, gerichtet gewesen waren, wurden aus dem Postlauf genommen.

Sodann erhielt der Kläger ein Schreiben vom 26. Juli 2010, das mit „im Auftrag“ von der damaligen Auszubildenden K. unterzeichnet war und in dem es u.a. heißt:

Sehr geehrter Herr M.,

unter Bezugnahme auf Ihre Bewerbung vom 27. Mai 2010 teile ich Ihnen mit, dass ich mich bei der Besetzung der ausgeschriebenen Stelle nicht für Sie entschieden habe.

Ich bedauere, Ihnen keine günstigere Nachricht geben zu können.

Für das von Ihnen gezeigte Interesse an einer Beschäftigung bei meiner Behörde bedanke ich mich nochmals und wünsche Ihnen für Ihren weiteren beruflichen und privaten Lebensweg alles Gute.“

Eine Weisung zur Versendung dieses Schreibens hatte die Auszubildende K. von keinem zuständigen Mitarbeiter der Personalabteilung erhalten.

Der Schwerbehinderte verlangte daraufhin mit anwaltlichem Schreiben vom 6. August 2010 eine Entschädigung in Höhe von 5.816,37 €, weil ihn das beklagte Land trotz Befähigung für die ausgeschriebene Stelle nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen habe.

Das Stellenbesetzungsverfahren war zu jenem Zeitpunkt jedoch noch nicht abgeschlossen.

Daraufhin erhielt der Kläger ein Schreiben des Präsidiums mit dem Hinweis, es handele sich um ein Missverständnis und ein Büroversehen. Das Auswahlverfahren werde fortgesetzt. Man habe den Kläger in den engeren Bewerberkreis für die Stelle aufgenommen und lade ihn daher zu einem Vorstellungsgespräch am 25. August 2010 um 10.30 Uhr in die Dienststelle ein. Mit Anwaltsschreiben wurde diese neue Stelle abgelehnt. Es erfolgte eine weitere Einladung für den 8. September 2010, 09.00 Uhr, zu einem Vorstellungsgespräch. Hierauf reagierte der Kläger dann nicht mehr.

Das beklagte Land meint, der Geschehensablauf rechtfertigte keinen Entschädigungsanspruch. Das Absageschreiben sei versehentlich verschickt worden. Der Kläger sei noch in das weiter laufende Bewerbungsverfahren einbezogen worden. Damit sei ein etwaiger Verstoß gegen § 82 S. 2 SGB IX geheilt worden. Der Kläger habe diese Chance aufgrund eigener Entscheidung nicht genutzt.

Das Arbeitsgericht hat dem Kläger eine Entschädigung in Höhe von 1,5 Bruttomonatsgehältern (nicht drei) in Höhe von 2.908,18 € zugesprochen. Auf die Berufung des beklagten Landes hat das Landesarbeitsgericht die Klage insgesamt abgewiesen.

Die Entscheidung:

Im Revisionsverfahren hat das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts aufgehoben und nochmals zur Verhandlung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

I. Pflicht zur Einladung

Den öffentlichen Arbeitgeber treffen besondere Pflichten nach § 82 SGB IX. Danach muss der öffentliche Arbeitgeber schwerbehinderte Menschen zu einem Vorstellungsgespräch zwingend einladen. Eine Einladung ist nur dann entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.

II. Entschädigungsanspruch nur bei Benachteiligung

Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 i.V.m. § 7 AGG ist eine Benachteiligung. Eine solche Benachteiligung liegt nach § 3 Abs. 1 S. 1 AGG vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.

Die Behandlung des Klägers war hier im Vergleich zu den Vorstellungsgesprächen eingeladenen weiteren Bewerbern weniger günstig. Einen Nachteil im Rahmen einer Auswahlentscheidung, insbesondere bei einer Einstellung, liegt bereits dann vor, wenn der Bewerber nicht in die Auswahl einbezogen, sondern vorab ausgenommen und vorzeitig aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen wird. Hier liegt die Benachteiligung in der Versagung einer Chance.

III. Verschulden nicht erforderlich!

Anspruchsvoraussetzung für einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG ist nicht, dass der Arbeitgeber selbst oder eine für ihn tätig werdende Person schuldhaft gehandelt hat. Der Entschädigungsanspruch setzt nämlich kein Verschulden oder gar eine Benachteiligungsabsicht voraus. Es bedarf daher auch keiner Zurechnung eines schuldhaften Fehlverhaltens der Auszubildenden oder ggf. anderer Mitarbeiter. Vielmehr geht es ausschließlich um eine Zurechnung der objektiven Handlungsbeiträge oder Pflichtverletzungen der für den Arbeitgeber handelnden Personen im vorvertraglichen Vertrauensverhältnis. Bedient sich der Arbeitgeber bei der Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses eigener Mitarbeiter oder Dritter, so trifft ihn die volle Verantwortlichkeit für deren Verhalten.

Das Bundesarbeitsgericht betont in diesem Zusammenhang, dass jeder Arbeitgeber die Erledigung seiner Personalangelegenheiten so zu organisieren hat, dass die gesetzlichen Pflichten zur Förderung schwerbehinderter Bewerber erfüllt werden. Das Bewerbungsverfahren hat er fair und diskriminierungsfrei auszugestalten. Die für ihn handelnden Personen, auch Auszubildende, sind ihrerseits gehalten, insbesondere die Pflicht des § 82 SGB IX zu erfüllen. Ein Verstoß gegen diese Pflicht ist dem beklagten Land mithin als objektive Pflichtverletzung zuzurechnen.

Hinweis für die Praxis:

Auf fehlerhafte Geschehensabläufe kann sich der Arbeitgeber zu seiner Entlastung daher ebenso wenig berufen wie auf unverschuldete Personalengpässe. Auch durchgeführte Schulungen oder „mustergültige“ Handreichungen kann er nicht ins Feld führen. Darauf käme es nämlich nur bei einem verschuldensabhängigen Schadensersatzanspruch an, nicht aber bei einem Entschädigungsanspruch nach dem AGG. Das von dem beklagten Land vorgetragene Büroversehen ändert damit an dessen Verantwortung hier nichts.

IV. Keine rückwirkende Heilung

Das Bundesarbeitsgericht betont weiter, dass eine nachträgliche und rückwirkende „Heilung“ mit der Struktur des AGG und insbesondere den geltenden strickten Fristenregelungen nicht vereinbar ist. Weder das AGG noch das SGB IX sehen eine „Heilung“ oder gar die vom Landesarbeitsgericht bejahte rückwirkende Unbeachtlichkeit eines Verstoßes gegen § 82 S. 2 SGB IX vor. Eine Heilung ist nicht möglich.

V. Beweislastumkehr

Das Bundesarbeitsgericht hat den Rechtsstreit dennoch nicht abschließend entschieden. Vielmehr wurde die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Das Bundesarbeitsgericht hat dem Landesarbeitsgericht aber wichtige Hinweise gegeben. Liegt ein Indiz für eine Benachteiligung vor, hier die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch, trägt dann der Arbeitgeber nach § 22 AGG die Beweislast dafür, dass eine solche Benachteiligung nicht vorgelegen hat (Beweislastumkehr). Er muss das Gericht davon überzeugen, dass die Benachteiligung nicht auf der Behinderung beruht hat. Damit muss er Tatsachen und Umstände vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergeben, dass es ausschließlich andere Gründe waren als die Behinderung, die zu der weniger günstigen Behandlung geführt haben, und in seinem Motivbündel weder die Behinderung als negatives noch die fehlende Behinderung als positives Kriterium enthalten war.

Damit kommen auch Umstände, Geschehnisse und Verhaltensweisen in Betracht, die zeitlich nach der Benachteiligung liegen. Aus dem weiteren Verlauf des Bewerbungsverfahrens können sich sowohl Indizien, die für eine Benachteiligung sprechen, ergeben, als auch solche, die den Arbeitgeber entlasten. Es ist damit nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts möglich und zulässig, aus späteren Verhaltensweisen des Arbeitgebers bzw. der für ihn handelnden Personen Rückschlüsse daraus zu ziehen, dass in dem zur Benachteiligung führenden „Motivbündel“ kein diskriminierendes Element enthalten gewesen war.

Hinweis für die Praxis:

Damit kann der Arbeitgeber den gesamten Ablauf des Bewerbungsverfahrens und auch seine Bemühungen um ein neues Vorstellungsgespräch nutzen, um den Gegenbeweis anzutreten. Dies wird nun das Landesarbeitsgericht zu entscheiden haben. Vieles spricht dafür, dass dem Arbeitgeber dieser Beweis gelingen wird. Im Übrigen kann das spätere Bemühen um eine Korrektur der Benachteiligung jedenfalls bei der Höhe der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG berücksichtigt werden. Auch damit wird sich das Landesarbeitsgericht, wenn es eine Diskriminierung bejahen sollte, befassen müssen.

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