01.11.2015 -

Das Oberlandesgericht Hamm hat entschieden, dass ein Arzt, der aus vollständig erhobenen Befunden einen falschen Schluss zieht, einem – für sich allein noch nicht haftungsbegründenden – Diagnoseirrtum unterliegt. Dieser stellt erst dann einen haftungsbegründenden Diagnosefehler dar, wenn die Diagnose im Zeitpunkt der medizinischen Behandlung aus der Sicht eines gewissenhaften Arztes medizinisch nicht vertretbar ist.

Der Fall (verkürzt):

Der beklagte Gynäkologe aus Bad Oeynhausen setzte der Klägerin im Mai 2005 eine Spirale zur Empfängnisverhütung ein. Etwa zwei Jahre später wurde die Klägerin schwanger, Ende 2007 gebar sie eine gesunde Tochter. Vom Beklagten und seiner mit verklagten ärztlichen Praxis haben die Klägerin und ihr ebenfalls klagender Lebensgefährte Schadensersatz mit der Begründung verlangt, der Beklagte hätte im Rahmen der von ihm durchgeführten Ultraschallkontrolle eine bei der Klägerin vorliegende Anomalie einer doppelten Anlage von Vagina und Uterus erkennen und deswegen vom Einsetzen einer Spirale absehen müssen, weil diese bei der Anomalie keine verhütende Wirkung entfalten könne. Als Schaden haben sie ein Schmerzensgeld von 5.000,00 €, einen Verdienstausfall von etwa 28.000,00 € und den Ersatz von Unterhalts- und Betreuungsleistungen für ihre Tochter bis zum Eintritt der Volljährigkeit geltend gemacht.

Die Entscheidung:

Auf die Berufung des Beklagten hat der 26. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm – nach Auswertung der in erster und zweiter Instanz erstatteten Sachverständigengutachten – das der Klage im Wesentlichen stattgebende Urteil des Landgerichts Bielefeld abgeändert und die Klage abgewiesen. Dem Beklagten sei – so der Senat – kein Befunderhebungsfehler unterlaufen. Er habe alle Untersuchungen vorgenommen, die nach dem einzuhaltenden medizinischen Standard im Zusammenhang mit dem Einsetzen der Spirale geboten gewesen seien. Für die bei der Klägerin vorliegende Anomalie hätten zuvor keine Hinweise bestanden, nach ihr habe der Beklagte nicht fahnden müssen, so das OLG weiter.

Der Beklagte hafte hier auch nicht für eine fehlerhafte Diagnose. Ein Arzt, der aus vollständig erhobenen Befunden einen falschen Schluss ziehe, unterliege einem – für sich allein nicht haftungsbegründenden – Diagnoseirrtum. Dieser stelle erst dann einen haftungsbegründenden Diagnosefehler dar, wenn die Diagnose im Zeitpunkt der medizinischen Behandlung aus der Sicht eines gewissenhaften Arztes medizinisch nicht vertretbar sei. Hiervon sei im vorliegenden Fall nach den Gutachten der Sachverständigen nicht auszugehen. So war dem Arzt laut OLG im konkreten Fall nicht vorzuwerfen, dass er die Anomalie der Klägerin nicht erkannt und von einer regelhaften, nur einfachen Anlage ausgegangen sei. Die Anomalie der Klägerin sei extrem selten und wegen der in der Regel eng an der Seitenwand anliegenden trennenden Membran bei einer Spiegelung häufig nicht zu erkennen. Die Bewertung als regelhafte Genitalie sei deswegen mangels anderweitiger Umstände nicht zu beanstanden gewesen.

Hinzu komme, dass sich die Klägerin seit langen Jahren in frauenärztlicher Behandlung befunden habe, ohne dass frühere Bildgebungen Anhaltspunkte für die Anomalie ergeben hätten. So habe auch der gerichtliche Sachverständige die Anomalie der Klägerin erst nach einer intensiven Untersuchung diagnostiziert, wobei ihm die Fallgestaltung bereits Anhaltspunkte für eine Anomalie gegeben habe.

Hinweis für die Praxis:

Eine objektive Fehlerhaftigkeit einer Diagnose ist nicht vorwerfbar, wenn es sich um eine in concreto vertretbare Deutung der Befunde handelt. Ein Behandlungsfehler kommt daher erst dann bzw. insoweit in Betracht, wenn das diagnostische Vorgehen für einen gewissenhaften Arzt nicht mehr vertretbar erscheint, vor allem dann, wenn die erhobenen Befunde nur den Schluss auf eine bestimmte – andere – Diagnose rechtfertigen. Ferner ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass dem Arzt, der eine nicht vorwerfbare falsche Diagnose gestellt hat und er deshalb – aus seiner Sicht folgerichtig – bestimmte weitere Befunde nicht erhebt, aufgrund der unrichtigen Diagnosestellung keine unterlassene Befunderhebung zur Last gelegt werden kann.

Fazit:

Die Entscheidung des OLG Hamm steht im Einklang mit der ober- und höchstrichterlichen Rechtsprechung. Danach kann ein Diagnoseirrtum, der auf einer Fehlinterpretation eines Befundes zurückzuführen ist, nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden.

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