Ein ärztlicher Heileingriff bei einem minderjährigen Kind bedarf grundsätzlich der Zustimmung beider sorgeberechtigter Eltern. Erscheint nur ein Elternteil mit dem Kind beim Arzt, darf dieser in von der Rechtsprechung präzisierten Ausnahmefällen – abhängig von der Schwere des Eingriffs – darauf vertrauen, dass der abwesende Elternteil den erschienenen Elternteil zur Einwilligung in den ärztlichen Eingriff ermächtigt hat.
Der Fall (verkürzt):
Die im November 2008 in der 32. Schwangerschaftswoche mit multiplen Krankheitssymptomen geborene Tochter der Kläger wurde nach der Geburt zunächst im Herzzentrum Bad Oeynhausen betreut. Im Januar 2009 erfolgte ihre Verlegung auf die kinderchirurgische Klinik des beklagten Krankenhauses zur diagnostischen operativen Biopsie mit dem Zweck des Ausschlusses eines Morbus Hirschsprung. Bei dem ärztlichen Aufklärungsgespräch war nur die Klägerin anwesend, die auch den anästhesistischen Aufklärungsbogen allein unterzeichnete. Im Rahmen der kurz darauf durchgeführten Operation kam es zu Schwierigkeiten bei der Intubation und Beatmung des Kindes, sodass letztendlich vom operativen Eingriff abgesehen wurde. In der Folgezeit wurde das Kind fast durchgehend in Krankenhäusern behandelt, bevor es im Juli 2011 verstarb.
Von den Klägern behauptete Behandlungsfehler der Beklagten, durch die ihre Tochter infolge von Sauerstoffunterversorgung schwerste Schäden am Gehirn und weiteren sauerstoffunterversorgten Organen erlitten habe, konnten im erstinstanzlichen Verfahren nicht festgestellt werden. Im Berufungsverfahren vor dem OLG Hamm haben die Kläger weiter geltend gemacht, vor dem Eingriff der Beklagten nicht hinreichend über Risiken und Behandlungsalternativen aufgeklärt worden zu sein. Zudem habe der Kläger selbst keine Einwilligung erteilt, obwohl dies zwingend erforderlich gewesen sei.
Die Entscheidung:
Die Klage blieb auch in der Berufungsinstanz erfolglos. Denn das OLG Hamm konnte keinen die Haftung der Beklagten begründenden Aufklärungsfehler feststellen. Die durchgeführte Beweisaufnahme habe ergeben, dass die Klägerin vor dem Eingriff hinreichend über die mit der Narkose verbundenen Behandlungsrisiken aufgeklärt worden sei. Weil es insoweit keine Behandlungsalternativen gegeben habe, habe über solche nicht aufgeklärt werden müssen. Die Einwilligung der Kläger in die Behandlung sei auch nicht deshalb unwirksam gewesen, weil nur die Klägerin am Aufklärungsgespräch teilgenommen und den Aufklärungsbogen unterzeichnet habe. Grundsätzlich müssten beide sorgeberechtigten Eltern einem ärztlichen Heileingriff bei ihrem minderjährigen Kind zustimmen. Erscheine nur ein Elternteil mit dem Kind beim Arzt, dürfe dieser allerdings in von der Rechtsprechung präzisierten Ausnahmefällen darauf vertrauen, dass der abwesende Elternteil den erschienenen Elternteil zur Einwilligung in den ärztlichen Eingriff ermächtigt habe.
In Routinefällen (Ausnahmefall 1) dürfe der Arzt – bis zum Vorliegen entgegenstehender Umstände – davon ausgehen, dass der mit dem Kind bei ihm erscheinende Elternteil die Einwilligung in die ärztliche Behandlung für den anderen Elternteil miterteilen dürfe. Gehe es um ärztliche Eingriffe schwerer Art mit nicht unbedeutenden Risiken (Ausnahmefall 2), müsse sich der Arzt vergewissern, ob der erschienene Elternteil die Ermächtigung des anderen Elternteils habe und wie weit diese reiche. Dabei dürfe er aber – bis zum Vorliegen entgegenstehender Umstände – davon ausgehen, vom erschienenen Elternteil eine wahrheitsgemäße Auskunft zu erhalten. Gehe es um schwierige und weitreichende Entscheidungen über die Behandlung des Kindes (Ausnahmefall 3), etwa um eine Herzoperation, die mit erheblichen Risiken für das Kind verbunden seien, liege eine Ermächtigung des abwesenden Elternteils zur Einwilligung in den ärztlichen Eingriff durch den anwesenden Elternteil nicht von vornherein nahe. Deshalb müsse sich der behandelnde Arzt in diesen Fällen darüber vergewissern, dass der abwesende Elternteil mit der Behandlung einverstanden sei.
Die im vorliegenden Fall vorgesehene Biopsie sei als leichter bis mittelgradiger Eingriff mit normalen Anästhesierisiken zu bewerten und in die Kategorie des Ausnahmefalls 2 einzuordnen. Deswegen sei es ausreichend gewesen, dass sich der das Aufklärungsgespräch führende Arzt bei der Klägerin nach der Einwilligung des Klägers erkundigt habe und sich diese durch die Unterschrift der Klägerin auf dem Aufklärungsbogen, der einen entsprechenden Hinweis enthalte, habe bestätigen lassen.
Hinweis für die Praxis:
Wenn es um die ärztliche Behandlung eines minderjährigen Kindes geht, kann nach dem BGH typischerweise davon ausgegangen werden, dass der mit dem Kind beim Arzt oder im Krankenhaus vorsprechende Elternteil aufgrund einer allgemeinen Funktionsaufteilung zwischen den Eltern ermächtigt ist, für den Abwesenden die erforderliche Einwilligung in ärztliche Heileingriffe nach Beratung durch den Arzt mitzuerteilen. Der Arzt darf in Grenzen auf eine solche Ermächtigung vertrauen, solange ihm keine entgegenstehenden Umstände bekannt sind. Dementsprechend wird in “Routinefällen”, wenn es etwa um die Behandlung leichterer Erkrankungen und Verletzungen geht, der Arzt sich im Allgemeinen ungefragt auf die Ermächtigung des erschienenen Elternteiles zum Handeln für den anderen verlassen dürfen. In anderen Fällen, in denen es um ärztliche Eingriffe schwererer Art mit nicht unbedeutenden Risiken geht, wird sich der Arzt darüber hinaus vergewissern müssen, ob der erschienene Elternteil die beschriebene Ermächtigung des anderen hat und wie weit diese reicht; er wird aber, solange dem nichts entgegensteht, auf eine wahrheitsgemäße Auskunft des erschienenen Elternteils vertrauen dürfen. Geht es allerdings um schwierige und weitreichende Entscheidungen über die Behandlung des Kindes, die mit erheblichen Risiken für das Kind verbunden sind, dann liegt eine Ermächtigung des einen Elternteils zur Einwilligung in ärztliche Eingriffe bei dem Kind durch den anderen nicht von vornherein nahe. Deshalb muss sich der Arzt in einem solchen Fall die Gewissheit verschaffen, dass der nicht erschienene Elternteil mit der vorgesehenen Behandlung des Kindes einverstanden ist.
Fazit:
Vor diesem Hintergrund ist das Urteil nicht zu beanstanden. Dagegen wurde allerdings Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt. Insoweit bleibt die Entscheidung des BGH abzuwarten.
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