24.01.2016 -

Schwerbehinderte Menschen werden nach dem SGB IX besonders geschützt. Zahlreiche Pflichten des Arbeitgebers und Rechte der schwerbehinderten Menschen ergeben sich insbesondere aus § 81 SGB IX. Das Landesarbeitsgericht Hamburg hatte die wichtige Frage zu entscheiden, ob aus dieser Vorschrift auch ein Anspruch des schwerbehinderten Menschen auf einen bestimmten Arbeitsort abzuleiten ist (LAG Hamburg, Urteil v. 15.04.2015 – 5 Sa 107/12). Das Landesarbeitsgericht Hamburg hat einen solchen Anspruch im konkreten Fall bejaht, allerdings die Revision zum Bundesarbeitsgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung zugelassen.

Der Fall:

Der klagende Arbeitnehmer ist als Verkaufsmitarbeiter bei dem beklagten Arbeitgeber beschäftigt. Dieser betreibt eine Vielzahl von Filialen für Bürobedarf in Deutschland. Der Einsatzort des Klägers war in der Nähe von Hamburg nördlich der Elbe. Sein Wohnort hingegen in Niedersachsen, südwestlich von Lüneburg. Der Kläger war in Vollzeit beschäftigt.

Vier Jahre nach seiner Einstellung, im Jahre 2007, wurde er als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 90 anerkannt. In der Folge bewarb sich der Kläger um eine Versetzung in die betriebsratslose Filiale nahe seinem Wohnort in Lüneburg. Sein Begehren stützte er auf mehrere ärztliche Bescheinigungen, in denen ein solcher Wechsel im Hinblick auf bestehende Angstzustände und den vorliegenden Bandscheibenvorfall wegen der andernfalls erforderlichen Nutzung eines PKW empfohlen wurde.

Der Arbeitgeber hat den Antrag auf Versetzung abgelehnt. Der Mitarbeiter könne umziehen oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Die Arbeitszeiten in der Filiale in Lüneburg seien überwiegend auf Teilzeitkräfte ausgerichtet. Zudem müsse jeder Verkäufer alles machen können. Der Kläger sei aber wegen seiner Schwerbehinderung teilweise beschränkt, insbesondere was das Verräumen von Waren angehe. Der Kläger trug hingegen vor, die Filiale in Lüneburg sei von seinem Arbeitsplatz aus leicht zu erreichen. Die dort beschäftigten Verkäufer hätten ebenfalls Versetzungsklauseln und könnten leicht in andere Filialen versetzt werden.

Das Arbeitsgericht hat erstinstanzlich der Klage stattgegeben.

Die Entscheidung:

Im Berufungsverfahren hat das Landesarbeitsgericht die Entscheidung des Arbeitsgerichts bestätigt und den Arbeitgeber verpflichtet, den Mitarbeiter wohnortnah in der Filiale in Lüneburg zu beschäftigen.

I. Anspruch auf Beschäftigung

Das Landesarbeitsgericht hat die stattgebende Klage auf die Spezialvorschrift des § 81 Abs. 4 S. 1 SGB IX gestützt. Danach haben schwerbehinderte Menschen gegenüber ihrem Arbeitgeber u.a. „Anspruch auf Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können.“

Der Arbeitgeber erfüllt diesen Anspruch regelmäßig dadurch, dass er dem Arbeitnehmer die im Arbeitsvertrag vereinbarte Arbeit zuweist. Kann aber der schwerbehinderte Arbeitnehmer die damit verbundenen Tätigkeiten wegen seiner Behinderung nicht mehr wahrnehmen, so führt dieser Verlust nach der Konzeption der §§ 81 ff. SGB IX nicht ohne weiteres zum Wegfall des Beschäftigungsanspruchs. Der Arbeitnehmer hat vielmehr Anspruch auf eine anderweitige Beschäftigung (vgl. § 106 GewO) und, soweit der bisherige Arbeitsvertrag diese Beschäftigungsmöglichkeit nicht abdeckt, sogar auf eine entsprechende Vertragsänderung.

Hinweis für die Praxis:

Um eine behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen, ist der Arbeitgeber nach § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 SGB IX sogar zu einer Umgestaltung der Arbeitsorganisation verpflichtet. So kann der schwerbehinderte Arbeitnehmer verlangen, dass er mit leichteren Arbeiten beschäftigt wird, sofern im Betrieb die Möglichkeit zu einer solchen Aufgabenumverteilung besteht. Die Verpflichtung des Arbeitgebers, einen behinderungsgerechten Arbeitsplatz einzurichten, geht also sehr weit.

II. Schutz des Arbeitgebers?

Der Arbeitgeber kann dem Anspruch auf behindertengerechte Beschäftigung nach § 81 Abs. 4 S. 3 SGB IX entgegenhalten, dass die Erfüllung des Anspruchs für ihn nicht zumutbar oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden wäre. Der Arbeitgeber ist auch nicht verpflichtet, für den schwerbehinderten Menschen einen zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten. Aber: Er ist unter Berücksichtigung des Einzelfalles verpflichtet, behinderten Menschen den Zugang zur Beschäftigung, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Hierzu gehört auch die Einrichtung des Arbeitsumfeldes bis hin zur Einrichtung eines Heimarbeitsplatzes (vgl. LAG Niedersachsen, Urteil v. 06.12.2010 – 12 Sa 860/10).

III. Darlegungs- und Beweislast

Macht der schwerbehinderte Arbeitnehmer den rechtlichen Beschäftigungsanspruch nach § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX geltend, so hat er nach den allgemeinen Regeln grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast für diese anspruchsbegründenden Voraussetzungen. Dazu muss er sein eingeschränktes Leistungsvermögen darlegen und beweisen, seine Weiterbeschäftigung geltend machen und die Beschäftigungsmöglichkeiten aufzeigen, die seinen Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechen sollen. Hierauf hat sich dann der Arbeitgeber substantiiert einzulassen. Er muss also darlegen, aus welchen Gründen die vom Arbeitnehmer vorgeschlagenen Beschäftigungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen. Welche Einzelheiten vom Arbeitgeber vorzutragen sind, bestimmt sich dabei nach den Umständen des Streitfalles und der Berücksichtigung der Darlegungen des klagenden Arbeitnehmers. Als Einwände kommen in Betracht, dass entsprechende Tätigkeitsbereiche überhaupt nicht vorhanden sind, keine Arbeitsplätze frei sind und auch nicht frei gemacht werden können, der Arbeitnehmer das Anforderungsprofil nicht erfüllt oder die Beschäftigung aus anderen Gründen unzumutbar ist.

Hinweis für die Praxis:

Wenn der Arbeitnehmer konkret unter Vorlage von ärztlichen Bescheinigungen darlegt, aus welchen Gründen eine Weiterbeschäftigung auf dem bisherigen Arbeitsplatz nicht möglich ist und welche Kenntnisse und Fähigkeiten verbleiben und wie er sich seinen zukünftigen Einsatzort vorstellt, so muss der Arbeitgeber hierauf sehr konkret (!) erwidern. Pauschale Behauptungen, wie etwa, der Arbeitnehmer sei grundsätzlich nicht geeignet, reichen keinesfalls aus. Im Prozess ist die Arbeitgeberseite verpflichtet, sich mit dem Vortrag des Arbeitnehmers sehr genau und intensiv zu befassen.

IV. Anspruch auf einen konkreten Arbeitsort?

Ungeklärt ist bislang die Frage, ob aus den vorstehenden Erwägungen zusätzlich ein Anspruch des schwerbehinderten Menschen folgt, lediglich an einem bestimmten Arbeitsort beschäftigt zu werden. In dem Katalog des § 81 Abs. 4 S. 1 SGB IX ist der Arbeitsort nicht ausdrücklich erwähnt. Das Landesarbeitsgericht Hamburg hat nun aber entschieden, dass sich diese Frage unter den Oberbegriff der „Beschäftigung“ im Sinne von § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX subsumieren lässt. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist es, den schwerbehinderten Menschen eine Beschäftigung zu ermöglichen, bei welcher das Restleistungsvermögen der schwerbehinderten Menschen optimal zur Geltung kommt. Das erforderliche Korrektiv, welches den Arbeitgeber vor Überforderungen schützt, ist in § 81 Abs. 4 S. 3 SGB IX enthalten. Nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts Hamburg würde die Vorschrift des § 81 Abs. 4 SGB IX ihren Zweck verfehlen, wenn eine im Einzelfall ohne großen Aufwand mögliche Änderung des Arbeitsortes schon von vornherein als vom Katalog der vom Arbeitgeber zu erwägenden Anpassungsmaßnahmen nicht erfasst angesehen würde.

Hinweis für die Praxis:

Hieraus folgt zwar noch nicht zwingend, dass der Arbeitnehmer und schwerbehinderte Mensch den konkreten Arbeitsort dem Arbeitgeber vorgeben kann. Kommen mehrere Arbeitsorte in Betracht, steht die Auswahl dem Arbeitgeber zu. Vorliegend hatte allerdings der Arbeitgeber jedwede andere Beschäftigung an einem anderen Ort insgesamt abgelehnt und auch keine Alternativen aufgezeigt. Daher hat das Landesarbeitsgericht Hamburg klargestellt, dass in einem solchen Fall der Arbeitnehmer berechtigt ist, den Einsatzort zu konkretisieren. Dem Arbeitgeber wäre es daher zu empfehlen gewesen, nicht jedwede Änderung des Arbeitsortes abzulehnen, sondern einen eigenen Vorschlag zu machen. Dies hatte die Arbeitgeberseite versäumt.

Fazit:

Die Entscheidung macht deutlich, dass die Vorschrift des § 81 SGB IX den schwerbehinderten Menschen in sehr weitreichendem Maße schützt und ihm Ansprüche zuweist. Dies geht sogar so weit, dass dem Arbeitgeber die Ausübung seines Direktionsrechts vorgeschrieben werden kann. Der schwerbehinderte Mensch hat nach dieser Entscheidung Anspruch auf einen bestimmten Arbeitsort, wenn ihm nur dadurch eine schwerbehindertengerechte Beschäftigung ermöglicht wird. Die Entscheidung ist beim Bundesarbeitsgericht im Revisionsverfahren anhängig. Wir gehen davon aus, dass die dargelegten Grundsätze, die auf der Linie des Bundesarbeitsgerichts liegen, dort bestätigt werden. Wir werden weiter dazu berichten.

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