24.10.2016 -

Bekanntlich muss bei Mitarbeitern, die länger als sechs Wochen in den letzten 12 Monaten erkrankt waren, ein sogenanntes Betriebliches Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX durchgeführt werden (BEM). Die unterlassene Durchführung eines BEM ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung. Allerdings können sich dennoch im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens prozessuale Nachteile für den Arbeitgeber ergeben. Eine aktuelle Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein macht dies in besonderem Maße deutlich (LAG Schleswig-Holstein, Urteil v. 22.09.2015 – 1 Sa 48a/15). Die Praxis muss sich auf diese Anforderungen einstellen und ggf. die üblichen Standardanschreiben anpassen.

Der Fall (verkürzt):

Die Parteien streiten über die Rechtmäßigkeit einer krankheitsbedingten Kündigung. Der 1963 geborene, verheiratete Kläger ist bei dem beklagten Arbeitgeber seit 1981 als Lagerarbeiter beschäftigt. Er war in der Vergangenheit wie folgt arbeitsunfähig erkrankt:

Jahreszahl: Fehlzeiten: mit Entgeltfortzahlung:
2010 42 Arbeitstage 32 Arbeitstage
2011 63 Arbeitstage 53 Arbeitstage
2012 97 Arbeitstage 22 Arbeitstage
2013 53 Arbeitstage 53 Arbeitstage
bis 22.05.2014 50 Arbeitstage 33 Arbeitstage

Ursache der Erkrankungen waren im Wesentlichen Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates (Schulter, Nacken, Rücken, Knie) sowie Infektionserkrankungen und zuletzt eine Lungenentzündung.

Mit Schreiben vom 14. Januar und 9. April 2014 bot die Beklagte dem Kläger die Durchführung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements an. Der Kläger gab am 13. April 2014 an, er wolle zurzeit kein BEM-Gespräch führen und komme bei Bedarf auf das Integrationsteam der Beklagten zurück.

Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis aufgrund der häufigen Kurzerkrankungen nach vorheriger Betriebsratsanhörung ordentlich mit Schreiben vom 22. Mai 2014 zum 31. Dezember 2014.

Das Arbeitsgericht hat den Kündigungsschutzantrag des Klägers abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Fehlzeiten des Klägers rechtfertigten die Prognose, er werde auch künftig mehr als sechs Wochen im Jahr arbeitsunfähig sein.

Die Entscheidung:

Das Landesarbeitsgericht hat im Berufungsverfahren die Entscheidung des Arbeitsgerichts aufgehoben und der Klage stattgegeben.

I. Grundsätze der Darlegungslast

Im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses kann sich der Arbeitgeber, der für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung die Darlegungs- und Beweislast trägt, zunächst darauf beschränken zu behaupten, für den Arbeitnehmer bestehe keine alternative Beschäftigungsmöglichkeit. Diese pauschale Erklärung umfasst den Vortrag, Möglichkeiten zur leidensgerechten Anpassung des Arbeitsplatzes seien nicht gegeben. Es ist dann zunächst Sache des Arbeitnehmers hierauf zu erwidern, insbesondere darzulegen, wie er sich eine Änderung des bisherigen Arbeitsplatzes oder eine anderweitige Beschäftigung vorstellt, die er trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen ausüben kann. Dann ist es Sache des Arbeitgebers, hierauf seinerseits zu erwidern und ggf. darzulegen, warum eine solche Beschäftigung nicht möglich ist.

II. Gesteigerte Darlegungslast bei notwendiger Durchführung eines BEM!

Diese dargestellte abgestufte Darlegungs- und Beweislast gilt nur dann, wenn keine Verpflichtung zur Durchführung eines BEM besteht. Liegen hingegen die Voraussetzungen für ein BEM vor, gelten deutlich andere Grundsätze.

Das in § 84 Abs. 2 SGB IX geregelte BEM-Verfahren ist zwar selbst kein milderes Mittel gegenüber einer Kündigung. Mit seiner Hilfe können aber mildere Mittel, z.B. die Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder die Weiterbeschäftigung zu geänderten Arbeitsbedingungen auf einem anderen Arbeitsplatz erkannt und entwickelt werden. Möglich ist, dass auch ein BEM kein positives Ergebnis hätte erbringen können. Sofern dies der Fall ist, kann dem Arbeitgeber natürlich aus dem Unterlassen eines BEM kein Nachteil entstehen.

Wäre aber ein positives Ergebnis möglich gewesen, darf sich der Arbeitgeber nicht darauf beschränken, pauschal vorzutragen, er kenne keine alternativen Einsatzmöglichkeiten für den erkrankten Arbeitnehmer und es gebe keine leidensgerechten Arbeitsplätze, die der erkrankte Arbeitnehmer trotz seiner Erkrankung ausfüllen könne. Er hat vielmehr von sich aus denkbare oder vom Arbeitnehmer bereits genannte Alternativen zu würdigen und im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen sowohl eine Anpassung des bisherigen Arbeitsplatzes als auch die Beschäftigung auf einem anderen leidensgerechten Arbeitsplatz ausscheiden. Dies geht über die Darlegungslast des Arbeitgebers für das Nichtbestehen einer anderen Beschäftigungsmöglichkeit nach allgemeinen Grundsätzen hinaus. Der Arbeitgeber muss umfassend und konkret vortragen, warum weder der weitere Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisher inne gehabten Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung und Veränderung möglich war und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können.

III. Regelkonformes Angebot zum BEM notwendig!

Vorliegend hatte der Arbeitgeber dem Mitarbeiter zwar ein BEM mit zwei Schreiben angeboten. Das Landesarbeitsgericht hat aber in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts festgestellt, dass diese Angebote nicht regelkonform waren.

So ist es Sache des Arbeitgebers, die Initiative zur Durchführung des BEM zu ergreifen. Von einer rechtswirksamen Initiative kann nur ausgegangen werden, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor nach § 84 Abs. 2 S. 3 SGB IX auf die Ziele des BEM sowie Art und Umfang der dabei erhobenen Daten hingewiesen hat. Der Hinweis erfordert eine Darstellung der Ziele, die inhaltlich über eine bloße Bezugnahme auf die Vorschrift des § 84 Abs. 2 SGB IX hinausgeht. Zu diesen Zielen gehört die Klärung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und wie das Arbeitsverhältnis erhalten werden kann. Dem Arbeitnehmer muss verdeutlicht werden, dass es um die Grundlagen seiner Weiterbeschäftigung geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch er Vorschläge einbringen kann.

Daneben ist ein Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung erforderlich, der klarstellt, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen dienendes BEM durchführen zu können. Dem Arbeitnehmer muss also mitgeteilt werden, welche Krankheitsdaten als sensible Daten im Sinne von § 3 Abs. 9 BDSG erhoben und gespeichert und inwieweit und für welche Zwecke sie dem Arbeitgeber zugänglich gemacht werden.

Nur bei entsprechender Unterrichtung kann vom Versuch der ordnungsgemäßen Durchführung eines BEM die Rede sein.

Fazit:

BEM-Schreiben dürfen nicht pauschal auf die Notwendigkeit eines BEM hinweisen. Sie müssen inhaltlich konkret ausgestaltet sein und die Voraussetzungen des § 84 Abs. 2 SGB IX erfüllen. Geschieht dies nicht, handelt es sich nicht um das ordnungsgemäße Angebot eines BEM mit der weiteren – unangenehmen – Rechtsfolge, dass der Arbeitgeber so behandelt wird, als hätte ein regelkonformes BEM nicht stattgefunden. Die Praxis ist also gut beraten, ihre aktuellen BEM-Schreiben zu prüfen und ggf. anzupassen.

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