18.12.2016 -

Schwerbehinderte Menschen sind nach dem SGB IX besonders geschützt. Sie haben u.a. Anspruch auf eine Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Das Landesarbeitsgericht Hessen hatte sich nun damit zu befassen, wie weit dieser Anspruch tatsächlich reicht und ob ein Arbeitgeber nach diesen Grundsätzen verpflichtet sein kann, den schwerbehinderten Menschen bei entsprechender Eignung und Qualifizierung auch an einem höher eingruppierten Arbeitsplatz zu beschäftigen (LAG Hessen, Urteil v. 02.11.2015 – 16 Sa 473/15).

Der Fall:

Der beklagte Arbeitgeber stellt Befestigungssysteme für die Automobilindustrie her und beschäftigt mehrere 100 Mitarbeiter. Es besteht ein Betriebsrat. Der 53 Jahre alte, verheiratete Kläger hat eine Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur sowie zum Elektroniker mit IHK-Abschluss als Funkelektroniker absolviert und ist bei dem Arbeitgeber seit 1990, zuletzt als Elektroniker in der Schweißgeräteproduktion beschäftigt. Er erhält eine Vergütung nach der Vergütungsgruppe E5 des Entgeltrahmenabkommens der Hessischen Metall- und Elektroindustrie (ERA), zuletzt in Höhe von durchschnittlich 2.900,00 € brutto monatlich. Er weist einen Grad der Behinderung von 100 auf und ist seit dem 14. Juli 2011 arbeitsunfähig erkrankt. Seit dem 5. April 2013 bezieht er Arbeitslosengeld.

Ausweislich eines arbeitsmedizinischen Attests ist der Kläger für folgende Tätigkeiten geeignet:

Tätigkeiten im Wechsel Sitzen, Stehen und Gehen sowie leichte Tätigkeiten wie z.B. Büroarbeiten.

Der Arbeitgeber schrieb im Juli 2014 eine Stelle als sogenannter Qualitätsvorausplaner aus, auf die sich der Kläger erfolglos bewarb. Der Arbeitgeber hat behauptet, der Kläger könne diese Tätigkeit nicht nach einer Einarbeitung von weniger als drei Monaten selbständig ausführen. Zudem werde die Stelle nach Entgeltgruppe 7 ERA vergütet.

Das Arbeitsgericht hat die Klage des Arbeitnehmers abgewiesen. Er habe keinen Anspruch auf Beschäftigung als Qualitätsvorausplaner. Er verfüge nicht über die erforderliche Qualifikation. Zudem handele es sich, wie sich aus der Eingruppierung ergebe, um eine höherwertige Tätigkeit, auf die kein Anspruch bestehe.

Dagegen hat der Kläger Berufung zum Landesarbeitsgericht Hessen eingelegt.

Die Entscheidung:

Im Berufungsverfahren hat das Landesarbeitsgericht Hessen die Entscheidung der 1. Instanz aufgehoben und den Arbeitgeber verurteilt, den Kläger in der Tätigkeit als Qualitätsvorausplaner einzuarbeiten und zu beschäftigen.

I. Behinderungsgerechte Beschäftigung

Nach § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen gegen ihren Arbeitgeber Anspruch auf eine Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Kann der Schwerbehinderte seine ursprünglich vereinbarten Tätigkeiten wegen seiner Behinderung nicht mehr wahrnehmen, führt dieser Verlust nicht ohne Weiteres zum Wegfall des Beschäftigungsanspruchs. Der schwerbehinderte Arbeitnehmer kann dann vielmehr Anspruch auf eine anderweitige Beschäftigung haben und, soweit der bisherige Arbeitsvertrag diese Beschäftigungsmöglichkeit nicht abdeckt, sogar auf eine entsprechende Vertragsänderung.

Hinweis für die Praxis:

Der Anspruch beschränkt sich allerdings nur auf solche Tätigkeiten, für die der Schwerbehinderte nach seinen Fähigkeiten und Kenntnissen unter Berücksichtigung seiner Behinderung befähigt ist. Kommt eine solche anderweitige Beschäftigung in Betracht, ist der Arbeitgeber gleichwohl dann nicht zur Beschäftigung des schwerbehinderten Menschen verpflichtet, wenn ihm die Beschäftigung unzumutbar ist (vgl. § 81 Abs. 4 S. 3 SGB IX).

II. Anspruch auf Beförderung?

Der Arbeitgeber hatte sich u.a. darauf berufen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kein Anspruch auf Beförderung besteht. Das Landesarbeitsgericht Hessen hat diesen Grundsatz zwar bestätigt, gleichzeitig aber entschieden, dass damit eine Beförderung auch nicht ausgeschlossen sei. Der Umstand, dass die Tätigkeit des Qualitätsvorausplaners in eine höhere Vergütungsgruppe eingruppiert ist, ist unbeachtlich. Es gibt keinen Grundsatz, dass die leidensgerechte Beschäftigung höchstens in derselben Entgeltgruppe zu erfolgen hat.

Anhaltspunkte dafür, dass dem Arbeitgeber die Beschäftigung des Arbeitnehmers als Qualitätsvorausplaner unzumutbar wäre, waren nicht dargelegt. Er erfüllte die von der Beklagten selbst gesetzten Anforderungen. Es wäre daher nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts Hessen zumutbar gewesen, ihn bei der Besetzung der ausgeschriebenen Position zu berücksichtigen. Der Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung schließt nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts Hessen die hierfür erforderliche Einarbeitung ein.

Hinweis für die Praxis:

Schwerbehinderte Menschen genießen besonderen Schutz. Arbeitgeber können sich daher nicht darauf beschränken, eine leidensgerechte Beschäftigung sei nicht möglich. Sie müssen im Einzelnen darlegen, aus welchen Gründen eine leidensgerechte Beschäftigung ausscheidet, weshalb auch auf anderen Arbeitsplätzen eine Weiterbeschäftigung nicht in Betracht kommt und aus welchen Gründen die Beschäftigung unzumutbar ist. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hessen macht dabei deutlich, dass im Einzelfall sogar ein Anspruch auf eine Beförderung besteht, wenn die übrigen Voraussetzungen vorliegen. Diese Grundsätze sind zu berücksichtigen, wenn ein schwerbehinderter Mensch seine bisher ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausüben kann.

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