17.08.2017 -

Das Entgeltfortzahlungsgesetz eröffnet dem Arbeitgeber nach § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG die Möglichkeit, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu einem früheren Zeitpunkt zu verlangen. Das Bundesarbeitsgericht hatte sich nun mit der Frage zu befassen, ob ein einheitliches unternehmensübergreifendes Regelungsbedürfnis des Arbeitgebers, in allen Betrieben die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schon am ersten Tag zu verlangen, die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats begründet (BAG, Beschluss v. 23.08.2016 – 1 ABR 43/14). Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen den Einzelbetriebsräten und einem Gesamtbetriebsrat von besonderer Bedeutung ist.

Der Fall:

Die Arbeitgeberin betreibt ein Unternehmen der Logistikbranche. In ihren bundesweit 72 Betrieben sind etwa 15.000 Arbeitnehmer beschäftigt. In 30 Betrieben ist ein Betriebsrat gebildet. Diese haben einen Gesamtbetriebsrat errichtet.

Die Arbeitgeberin vereinbarte mit dem Gesamtbetriebsrat eine Gesamtbetriebsvereinbarung über eine allgemeine Arbeitsordnung (GBV AO). Deren Geltungsbereich erstreckt sich auf alle Betriebe mit einem Betriebsrat. In § 9 GBV AO sind Nachweispflichten im Krankheitsfall wie folgt festgelegt:

§ 9 Vorübergehende Nichtleistung der Arbeit

(3) Grundsätzlich hat jeder erkrankte Mitarbeiter für jeden vollen Arbeitstag, d.h. ab dem ersten vollen Krankheitstag, eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer vorzulegen. Die Bescheinigung muss spätestens am dritten Krankheitstag beim Arbeitgeber vorliegen und ist an die zuständige Personalabteilung oder den unmittelbaren Vorgesetzten bzw. bei dessen Verhinderung an den vom Arbeitgeber zu benennenden Stellvertreter zu adressieren.

(4) Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als in der vorgelegten ärztlichen Bescheinigung angegeben, so ist unverzüglich eine neue ärztliche Bescheinigung vorzulegen.

Ein Einzelbetriebsrat bestritt die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats für diese Regelungen und machte geltend, das Mitbestimmungsrecht stehe jeweils den örtlichen Betriebsräten zu.

Die Arbeitgeberin und der Einzelbetriebsrat haben daraufhin ein Beschlussverfahren eingeleitet, um feststellen zu lassen, welche Gremien konkret für die vereinbarten Regelungen bei Nachweispflichten im Krankheitsfall zuständig sind. Der Arbeitgeber hat dabei insbesondere die Auffassung vertreten, es bestehe ein zwingendes Bedürfnis für eine betriebsübergreifende Regelung. Schon aus diesem Grunde sei der Gesamtbetriebsrat zuständig.

Das Arbeitsgericht hat die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats bejaht. Das Landesarbeitsgericht hat hingegen die Zuständigkeit der Einzelbetriebsräte zuerkannt.

Die Entscheidung:

Im Rechtsbeschwerdeverfahren hat das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts bestätigt und klargestellt, dass allein die Einzelbetriebsräte zuständig sind.

I. Ordnungsverhalten

Zunächst war zu prüfen, nach welchem Mitbestimmungstatbestand überhaupt eine Zuständigkeit zu prüfen war. Das Bundesarbeitsgericht hat hier auf das betriebliche Ordnungsverhalten nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG abgestellt. Verlangt der Arbeitgeber von Arbeitnehmern unabhängig von einer Arbeitsleistung in einer bestimmten Form und innerhalb einer bestimmten Frist den Nachweis jeglicher Arbeitsunfähigkeit, betrifft dieses Verlangen das betriebliche Ordnungsverhalten. Es handelt sich um einen kollektiven Tatbestand.

Hinweis für die Praxis:

Das EFZG eröffnet dem Arbeitgeber einen Regelungsspielraum. Nach § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG steht dem Arbeitgeber die Befugnis zu, die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung abweichend von § 5 Abs. 1 S. 1 und 2 EFZG vor dem vierten Krankheitstag zu verlangen. Aus der Ausgestaltung des Regelungsspielraums zum „ob“ und zum „wie“ der Nachweispflicht hat der Betriebsrat mitzubestimmen. Dies gilt allerdings nur bei einer generellen Anordnung. Im Einzelfall bezogen auf einen einzelnen Arbeitnehmer besteht keine Mitbestimmungspflicht.

II. Zuständigkeit BR oder GBR?

Dem Gesamtbetriebsrat sind nach § 50 Abs. 1 S. 1 BetrVG nur solche Angelegenheiten zugewiesen, die das Gesamtunternehmen oder mehrere Betriebe betreffen und für die ein zwingendes Erfordernis für eine betriebsübergreifende Regelung besteht. Ein solches kann sich aus technischen oder rechtlichen Gründen ergeben. Davon ist etwa auszugehen, wenn der Arbeitgeber im Bereich der freiwilligen Mitbestimmung zu einer Maßnahme oder Leistung nur betriebsübergreifend bereit ist. Kann er nämlich über das „ob“ mitbestimmungsfrei entscheiden, so kann er ebenso mitbestimmungsfrei darüber befinden, ob eine solche Maßnahme oder Leistung überbetrieblich erfolgen soll.

Hier war aber gerade die Arbeitgeberin nicht frei darin, von der durch § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG eröffneten Befugnis gegenüber allen Arbeitnehmern Gebrauch zu machen. Vielmehr unterliegt bereits diese Entscheidung der zwingenden Mitbestimmung. Schon zum „ob“ besteht also ein Mitbestimmungsrecht.

Demnach hatte der Wunsch der Arbeitgeberin nach einem überbetrieblichen Regelungsbedarf keine Auswirkungen auf die Einzelzuständigkeit der Betriebsräte. Reine Zweckmäßigkeitserwägungen können eine gesetzliche Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats nicht begründen.

Fazit:

Die Abgrenzung der Zuständigkeiten nach dem BetrVG ist bei Unternehmen mit vielen Einzelbetriebsräten durchaus schwierig. Das Risiko obliegt dabei voll der Arbeitgeberseite. Verhandelt der Arbeitgeber mit dem falschen Gremium, ist die Mitbestimmung nicht gewahrt bzw. bleibt weiterhin den nicht beteiligten Gremien eröffnet. Schwierige und/oder wirtschaftlich weitreichende Betriebsvereinbarungen bedürfen daher einer genauen Überprüfung im Vorfeld im Hinblick auf die Zuständigkeit der einzelnen Betriebsräte oder eines GBR (oder KBR).

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