31.08.2017 -

Seit einigen Monaten gelten wichtige Änderungen im Schwerbehindertenarbeitsrecht. Im Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) hat der Gesetzgeber die Stellung der Schwerbehindertenvertretung erheblich gestärkt. Die Vorschriften gelten bereits seit dem 30. Dezember 2016. Die wichtigsten Neuerungen sollen hier für die Praxis zusammengefasst dargestellt werden.

I. Neue gesetzliche Reihenfolge
Die gesetzlichen Änderungen erfolgen zunächst in den bereits bekannten Vorschriften der §§ 85 ff. SGB IX. Allerdings hat der Gesetzgeber ab dem 1. Januar 2018 auch die gesetzliche Reihenfolge geändert. Das Schwerbehindertenarbeitsrecht wird dann mit bislang unverändertem Inhalt in den § 151 ff. SGB IX enthalten sein.

II. Neue Freistellungsstaffel
Die Freistellungsstaffel des § 96 SGB IX ist von 200 auf 100 herabgesetzt worden. Sind also in einem Betrieb in der Regel wenigstens 100 schwerbehinderte Menschen beschäftigt, ist die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen vollständig von der Arbeit freizustellen. Es gilt dabei der arbeitsrechtliche Betriebsbegriff, so dass auch Gemeinschaftsbetriebe von der Regelung betroffen sind. Zu den schwerbehinderten Menschen gehören auch die Gleichgestellten, § 68 Abs. 3 SGB IX.

III. Schulung von Stellvertretern
Verbessert worden ist auch die Rechtsstellung der stellvertretenden Mitglieder der Schwerbehindertenvertretung durch einen erweiterten Schulungsanspruch. Die Neuregelung des § 96 Abs. 4 Satz 3 SGB IX gewährt nunmehr dem ersten Stellvertreter als auch allen herangezogenen Stellvertretern einen Anspruch auf Teilnahme an den erforderlichen Schulungsveranstaltungen. Die Kosten hat der Arbeitgeber nach § 96 Abs. 8 Satz 2 SGB IX zu tragen. Maßstab ist und bleibt aber die Erforderlichkeit der Schulung. Diese muss weiterhin von dem Amtsträger dargelegt werden.

IV. Anspruch auf eine Bürokraft
Im Bereich der Betriebsverfassung hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat nach § 40 Abs. 2 BetrVG dem Betriebsrat in erforderlichem Umfange auch Büropersonal zur Verfügung zu stellen. Eine entsprechende Vorschrift gab es bislang für die Schwerbehindertenvertretung nicht. Das hat sich ebenfalls geändert. Der Arbeitgeber hat nun auch in erforderlichem Umfang die Kosten für eine Bürokraft für die Schwerbehindertenvertretung zu tragen, § 96 Abs. 8 SGB IX. Maßstab ist auch hier die Erforderlichkeit, die von der Schwerbehindertenvertretung dargelegt werden muss. Dies wird von dem Umfang der Tätigkeit und auch der Größe des Betriebes abhängen. Hier kann auf die Grundsätze aus der Betriebsverfassung zurückgegriffen werden.

V. Beteiligungspflicht bei Kündigungen!
Der Arbeitgeber hatte schon bislang die Schwerbehindertenvertretung vor Ausspruch einer Kündigung nach § 95 Abs. 2 SGB IX zu beteiligen. Allerdings gab es keine der Betriebsverfassung entsprechende Regelung, wonach Kündigungen ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung unwirksam sind (vgl. § 102 BetrVG). Dies hat sich nun geändert! Kündigungen schwerbehinderter Menschen sind nunmehr nach § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX n.F. unwirksam, wenn der Arbeitgeber das Beteiligungsrecht nicht beachtet. Die Beteiligung gilt für alle Kündigungsarten, also nicht nur die ordentliche Kündigung, sondern auch fristlose Kündigungen oder Änderungskündigungen. Die Beteiligungspflicht ist dabei unabhängig von der Geltung des Kündigungsschutzgesetzes. Sie greift daher auch in der Wartezeit/Probezeit und gilt auch im Kleinbetrieb, wobei dort selten eine Schwerbehindertenvertretung gewählt sein wird. Die Beteiligungspflicht der Schwerbehindertenvertretung greift unabhängig von der Zustimmungspflicht des Integrationsamtes. So besteht z.B. keine Pflicht, das Integrationsamt innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses zu beteiligen, § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX. Diese Vorschrift bezieht sich aber nicht auf die Rechte der Schwerbehindertenvertretung.

Zeitpunkt der Unterrichtung?
Erforderlich ist nach § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX eine unverzügliche Unterrichtung. Unklar ist aber, was damit gemeint ist. Muss der Arbeitgeber das Integrationsamt ohnehin beteiligen, hat er ein Wahlrecht. Er kann zunächst das Integrationsamt beteiligen und dessen Entscheidung abwarten. Wird die Zustimmung erteilt, kann dann die Schwerbehindertenvertretung und auch ein etwaig gebildeter Betriebsrat unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern, beteiligt werden. Der Arbeitgeber kann aber auch umgekehrt vorgehen und zunächst Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung anhören und erst dann das Integrationsamt um Zustimmung ersuchen.

Inhalt der Unterrichtung
Zum Inhalt der Unterrichtung gibt das Gesetz ebenfalls keine Vorgaben. Hier sollte man sich an den Grundsätzen, die zur Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG entwickelt worden sind, orientieren. Zwar lässt sich gut vertreten, dass gegenüber der Schwerbehindertenvertretung nur solche Gründe benannt werden müssen, die mit der Schwerbehinderung in einem Zusammenhang stehen. Eine solche Beschränkung ergibt sich aber aus dem Gesetzeswortlaut nicht, so dass bis zu einer anderslautenden Rechtsprechung der Arbeitgeber gut beraten ist, sämtliche Kündigungsgründe der Schwerbehindertenvertretung mitzuteilen.

Keine Formvorgaben
Eine besondere Form für die Unterrichtung sieht die Neuregelung nicht vor. Die Unterrichtung kann daher sogar mündlich erfolgen. Aus Beweisgründen sollte man aber, wie beim Betriebsrat, die Schwerbehindertenvertretung schriftlich anhören. Auch hier kann man sich an den Grundsätzen, die für die Betriebsratsanhörung gelten, orientieren.

Fristen?
Anders als im BetrVG sieht das SGB IX keine Fristen vor. Vor allem besteht keine Frist, innerhalb derer die Schwerbehindertenvertretung eine Stellungnahme abgeben muss. Der Praxis ist daher bis zu einer anderslautenden Rechtsprechung dringend zu empfehlen, der Schwerbehindertenvertretung Fristen zu setzen, um Rechtsnachteile zu vermeiden. Dabei sollte man sich an den Fristen des § 102 BetrVG orientieren, also eine Drei-Tages-Frist für eine fristlose Kündigung und die Wochenfrist für die ordentliche Kündigung.

Mit einer solchen konkreten Fristsetzung werden dann auch Unklarheiten, ob noch eine Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung erfolgt, vermieden.

Mitteilung der Entscheidung nach Anhörung
Der Arbeitgeber sollte nach Abschluss des Anhörungsverfahrens seine endgültige Entscheidung der Schwerbehindertenvertretung nochmals mitteilen. Zwar ist der Arbeitgeber im Rahmen des Anhörungsverfahrens frei, trotz eines Widerspruchs der Schwerbehindertenvertretung die Kündigung auszusprechen. Dennoch hat er nach § 95 Abs. 2 SGB IX die von ihm getroffene Entscheidung der Schwerbehindertenvertretung unverzüglich mitzuteilen.

Rechtsfolgen
Beachtet der Arbeitgeber die neue Beteiligungspflicht bei Kündigungen nicht, ist die Kündigung unwirksam!

Die Geltendmachung dieses Unwirksamkeitsgrundes muss, wie für die Kündigung im Übrigen, im Gerichtsverfahren erfolgen. Die Klagefrist beträgt drei Wochen, § 4 KSchG.

Fazit:
Die Neuregelungen im Schwerbehindertenarbeitsrecht stärken die Rechte der Schwerbehindertenvertretung erheblich. Arbeitgeber müssen insbesondere auf die neue Beteiligungspflicht bei Kündigungen achten. Kündigungen, die ohne vorherige Anhörung der Schwerbehindertenvertretung ausgesprochen werden, sind unheilbar unwirksam! Die Arbeitgeber sind daher gut beraten, sich mit den Neuregelungen zu befassen und die neuen Vorschriften zur Vermeidung von Rechtsnachteilen anzuwenden.

 

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