Das Betriebsverfassungsgesetz sieht die Wahl von Betriebsräten in Betrieben vor. In der Praxis kommt es gerade über diesen Betriebsbegriff immer wieder zu Streit. Welche betrieblichen Einheiten erfüllen einen selbständigen Betriebsbegriff und führen damit zu dem Recht der Arbeitnehmer, in dieser Einheit einen eigenständigen Betriebsrat zu wählen? Eine wichtige Vorschrift für die Konfliktlösung stellt § 4 BetrVG dar. Dort ist geregelt, in welchen Betriebsteilen eigene Betriebsräte gewählt werden können. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn ein Betriebsteil räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt ist oder durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig ist. Das Bundesarbeitsgericht hat sich in einem aktuellen Beschluss mit diesen Abgrenzungsfragen befasst und der Praxis wertvolle Hinweise an die Hand gegeben (BAG v. 17.5.2017, 7 ABR 21/15).
In einem aktuellen Utreil hat sich das Bundesarbeitsgericht mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen ein Produktionsstandort als betriebsratsfähige Organisationseinheit zu bewerten ist.
Der Fall:
Der beteiligte Arbeitgeber ist ein Unternehmen der chemischen Industrie. Er unterhält einen Produktionsstandort in W., in dem er ca. 1.500 Arbeitnehmer beschäftigt und einen weiteren Produktionsstandort im Chemiepark in K. mit ca. 150 Arbeitnehmern. Die weiteren Beteiligten des Verfahrens sind die an diesen beiden Standorten gewählten und errichteten Betriebsräte.
Streit besteht nun darüber, ob es sich bei dem Produktionsstandort in K. um eine betriebsratsfähige Organisationseinheit handelt.
Am Standort in K. betreibt der Arbeitgeber zwei Produktionsanlagen, denen jeweils ein fester Kreis von Arbeitnehmern zugeordnet ist. Mindestens einer dieser Anlagen arbeitet im sogenannten „Störfallbetrieb“. Die an dieser Anlage beschäftigten Arbeitnehmer können ihre Arbeit während der Schicht nicht mehr als 30 Minuten unterbrechen. Die Leitung der Anlagen am Standort K. obliegt dem Manager Car Operations. Dieser ist dem Werksleiter unterstellt.
Die Standorte in W. und K. sind von Werkstor zu Werkstor etwa 11 km voneinander entfernt. Für die Fahrt von einem Standort zum anderen benötigt man mit dem PKW bei guten Verkehrsverhältnissen etwa 20 Minuten, bei hohem Verkehrsaufkommen jedenfalls 30 Minuten. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln beträgt die Fahrzeit in der Regel etwa 90 Minuten für die einfache Strecke.
Nach dem Erwerb des Standortes K. im Jahre 2000 kam der Arbeitgeber mit dem dortigen Betriebsrat überein, die Betriebsratsstruktur vorübergehend beizubehalten. Dementsprechend wurden in den Jahren 2002, 2006 und 2010 für jeden Standort gesonderte Betriebsräte gewählt. Trotz der Aufforderung des Arbeitgebers, im Jahre 2014 einen einheitlichen Betriebsrat für beide Standorte zu wählen, wurden auch im Jahre 2014 getrennte Betriebsräte für die Standorte K. und W. gewählt.
Mit der am 10. September 2013 beim Arbeitsgericht eingegangenen Antragsschrift hat der Arbeitgeber die Feststellung begehrt, dass der Standort K. keine betriebsratsfähige Organisationseinheit ist.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Arbeitgebers ebenfalls zurückgewiesen.
Die Entscheidung:
Im Rechtsbeschwerdeverfahren hat das Bundesarbeitsgericht die Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt.
I. Feststellungsklage zulässig
Das Betriebsverfassungsgesetz enthält in § 18 Abs. 2 BetrVG eine eigenständige Vorschrift zur Klärung von Fragen über den Betriebsbegriff. Es ist zweifelhaft, ob eine betriebsratsfähige Organisationseinheit vorliegt; so können der Arbeitgeber, jeder beteiligte Betriebsrat, jeder beteiligte Wahlvorstand und sogar eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft eine Entscheidung des Arbeitsgerichts beantragen. Der Arbeitgeber war damit vorliegend berechtigt, diese Frage gerichtlich klären zu lassen.
II. Unterschiede Betrieb und Betriebsteil
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist ein Betrieb im Sinne des BetrVG eine organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber zusammen mit den von ihm beschäftigten Arbeitnehmern bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Dazu müssen die in der Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt und die menschliche Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert werden.
Ein Betriebsteil ist dagegen auf den Zweck des Hauptbetriebes ausgerichtet und in dessen Organisation eingegliedert, ihm gegenüber aber organisatorisch abgrenzbar und relativ verselbständigt.
Hinweis für die Praxis:
Für die Abgrenzung von Betrieb und Betriebsteil ist der Grad der Verselbständigung entscheidend, der im Umfang der Leitungsmacht zum Ausdruck kommt. Erstreckt sich die in der organisatorischen Einheit ausgeübte Leitungsmacht auf alle wesentlichen Funktionen des Arbeitgebers in personellen und sozialen Angelegenheiten, handelt es sich um einen eigenständigen Betrieb im Sinne von § 1 BetrVG. Für das Vorliegen eines Betriebsteils im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG genügt ein Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit gegenüber dem Hauptbetrieb. Dazu reicht es aus, dass in der organisatorischen Einheit überhaupt eine den Einsatz der Arbeitnehmer bestimmende Leitung institutionalisiert ist, die Weisungsrechte des Arbeitgebers ausübt. Unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 BetrVG gilt ein Betriebsteil dann als eigenständiger Betrieb. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, gehört der Betriebsteil betriebsverfassungsrechtlich zum Hauptbetrieb.
III. Räumlich weite Entfernung
Betriebsteile sind im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG vom Hauptbetrieb räumlich weit entfernt, wenn wegen dieser Entfernung eine ordnungsgemäße Betreuung der Belegschaft des Betriebsteils durch einen beim Hauptbetrieb ansässigen Betriebsrat nicht mehr gewährleistet ist. Der Zweck der Regelung des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG besteht darin, den Arbeitnehmern von Betriebsteilen eine effektive Vertretung durch einen eigenen Betriebsrat zu ermöglichen, wenn wegen der räumlichen Trennung des Betriebsteils von dem Hauptbetrieb die persönliche Kontaktaufnahme zwischen einem dortigen Betriebsrat und den Arbeitnehmern im Betriebsteil so erschwert ist, dass der Betriebsrat des Hauptbetriebes die Interessen der Arbeitnehmer nicht mit der nötigen Intensität und Sachkunde wahrnehmen kann und sich die Arbeitnehmer nur unter erschwerten Bedingungen an den Betriebsrat wenden können oder Betriebsratsmitglieder, die in dem Betriebsteil beschäftigt sind, nicht kurzfristig zu Sitzungen im Hauptbetrieb kommen können.
Maßgeblich ist also sowohl die leichte Erreichbarkeit des Betriebsrats aus Sicht der Arbeitnehmer wie auch umgekehrt die Erreichbarkeit der Arbeitnehmer für den Betriebsrat.
Hinweis für die Praxis:
Eine Bestimmung des unbestimmten Rechtsbegriffs allein nach Entfernungskilometern kommt also nicht in Betracht. Es ist vielmehr eine Gesamtwürdigung aller Umstände vorzunehmen.
IV. Regelmäßige Verkehrsverhältnisse maßgeblich
Für die jederzeitige Erreichbarkeit ist nicht auf die ungünstigste Verkehrssituation, sondern auf die regelmäßigen Verkehrsverhältnisse abzustellen. Auf die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt es nur an, wenn für einen nicht unerheblichen Teil der Arbeitnehmer nicht die Möglichkeit besteht, den Hauptbetrieb mit einem eigenen PKW oder mit einem vom Arbeitgeber eingerichteten Zubringerdienst zu erreichen. Der Arbeitgeber ist berechtigt, einen Zubringerdienst einzurichten. Für einen solchen Zubringerdienst kann es dann entgegen der Rechtsauffassung der beteiligten Betriebsräte aber erst dann ankommen, wenn ein gemeinsamer Betriebsrat für beide Standorte errichtet ist. Maßgeblich ist daher, ob im Zeitpunkt der letzten Anhörung vor dem Landesarbeitsgericht die Prognose berechtigt war, dass die Arbeitnehmer des Betriebsteils K. nach der Wahl eines gemeinsamen Betriebsrats im Bedarfsfall auf Kosten des Arbeitgebers einen Taxiservice nutzen können, um den Betriebsrat in W. aufzusuchen.
Hinweis für die Praxis:
Das Bundesarbeitsgericht gibt damit keine konkreten Hinweise für die leichte Erreichbarkeit im Sinne von Entfernungskilometern. Diese Frage kann nur in jedem Einzelfall anhand der konkreten Verhältnisse geprüft werden.
V. Möglichkeit Betriebsrat aufzusuchen
Der Arbeitgeber verlor seinen Feststellungsantrag vor allem deshalb, weil durch den sogenannten „Störfallbetrieb“ nicht gewährleistet werden konnte, dass die Mitarbeiter während ihrer Arbeitszeit den Betriebsrat in W. aufsuchen konnten. Wegen dieses „Störfallbetriebs“ dürfen die Mitarbeiter während ihrer Schicht die Arbeit nicht länger als 30 Minuten unterbrechen. Selbst bei günstiger Berücksichtigung von 2 x 20 Minuten Fahrzeit sowie 2 x 5 Minuten Fußweg in W. ist aber mindestens mit einer Wegezeit von 50 Minuten zu rechnen, um den Betriebsrat in W. vom Standort K. aus aufsuchen zu können. Damit war die persönliche Erreichbarkeit zwischen diesem Teil der Belegschaft in K. und dem Betriebsrat in W. so erschwert, dass der Betriebsrat des Hauptbetriebs die Interessen dieser Arbeitnehmer nicht ordnungsgemäß wahrnehmen könnte. Dem steht die Erreichbarkeit des Betriebsrats per Post, Telefon oder moderner Kommunikationsmittel nicht entgegen. Das Bundesarbeitsgericht stellt ausdrücklich klar, dass § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG auf die räumliche Entfernung abstellt. Die Inanspruchnahme moderner Kommunikationsmittel kann den persönlichen Kontakt zwischen Arbeitnehmer und Betriebsrat nicht ersetzen, sondern erleichtert nur die Kontaktaufnahme und die Absprache von Terminen sowie die Übermittlung schriftlicher Unterlagen.
Hinweis für die Praxis:
Es reicht auch nicht aus, dass ein für beide Standorte gewählter Betriebsrat Sprechstunden in K. abhalten würde. Jeder Arbeitnehmer muss nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts die Möglichkeit haben, das Betriebsratsmitglied seines Vertrauens aufzusuchen, ohne hieran allein wegen der räumlichen Entfernung gehindert zu sein. Daher können die Arbeitnehmer nicht nur auf Sprechstunden oder bestimmte ortsansässige Betriebsratsmitglieder verwiesen werden.
Fazit:
Die Zuordnung einer betrieblichen Organisationseinheit zum Hauptbetrieb nach § 4 BetrVG ist mit zahlreichen Einzelfragen verbunden, die nur im konkreten betrieblichen Kontext beantwortet werden können. Dabei kommt es weniger auf die Erreichbarkeit nach Entfernungskilometern an, sondern vielmehr auf die Frage, ob die Mitarbeiter während der Arbeitszeit den Betriebsrat persönlich aufsuchen können. Ist dies schon aufgrund des bestehenden Schichtsystems nicht möglich, scheitert die Eigenständigkeit. Vor der Einleitung eines Verfahrens sind diese Fragen zu prüfen und ggf. die betrieblichen Verhältnisse entsprechend anzupassen.
Auszeichnungen
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TOP-Wirtschaftskanzlei für Arbeitsrecht(FOCUS SPEZIAL 2024, 2023, 2022, 2021, 2020)
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TOP-Kanzlei für Arbeitsrecht(WirtschaftsWoche 2023, 2022, 2021, 2020)
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TOP-Anwalt für Arbeitsrecht: Prof. Dr. Nicolai Besgen(WirtschaftsWoche 2023, 2020)
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