05.07.2018 -

Sexuelle Belästigungen rechtfertigen ohne weiteres die fristlose Kündigung. Allerdings ist dieser abstrakte Grundsatz im Einzelfall nicht so eindeutig, wie er sich darstellt. Dies bestätigt eine aktuelle Entscheidung des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 29. Juni 2017 (BAG v. 29.6.2017, 2 AZR 302/16). Die Entscheidung macht vor allem deutlich, dass es einer sorgfältigen Einzelabwägung und Begründung bedarf, um eine fristlose Kündigung durchzusetzen. Die Arbeitsgerichte sind hier keinesfalls zugunsten der Arbeitnehmer großzügig, erwarten aber eine sorgfältige Interessenabwägung des Arbeitgebers.


Eine sexuelle Belästigung liegt laut Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz (AGG) dann vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird.

Der Fall:

Der klagende Arbeitnehmer war bei dem beklagten Arbeitgeber, der ein Stahlwerk betreibt, bereits seit Juni 1981 als Arbeiter beschäftigt. Am 22. Oktober 2014 war der Kläger zusammen mit zwei im Betrieb der Beklagten eingesetzten Leiharbeitnehmern bei der Verpackung und Etikettierung von Bandstahlrollen tätig. Einer der Fremdfirmenarbeiter meldete zwei Tage später seinem Vorarbeiter, der Kläger habe ihn von hinten schmerzhaft in den Genitalbereich gegriffen und anschließend darüber Bemerkungen gemacht.

Der Arbeitgeber hörte daraufhin die Fremdfirmenmitarbeiter und den Kläger zu dem Vorwurf an. Der Kläger bestritt ein Fehlverhalten. Nach Anhörung des Betriebsrats kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristlos und hilfsweise ordentlich.

Gegen beide Kündigungen hat sich der Kläger mit seiner Kündigungsschutzklage gewandt. Er habe den Mitarbeiter der Fremdfirma lediglich unabsichtlich am Hinterteil berührt. Im Übrigen rechtfertige selbst das ihm vorgeworfene Verhalten keine Kündigung. Auch einem anderen Arbeitnehmer, der im Jahre 2000 einem Kollegen schmerzhaft in den Genitalbereich gegriffen habe, habe der Arbeitgeber nicht gekündigt.

Die Entscheidung:

Das Bundesarbeitsgericht hat die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, wonach die fristlose Kündigung unverhältnismäßig sei, aufgehoben, den Rechtsstreit aber nicht selbst entschieden, sondern zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

I. Sexuelle Belästigung

Eine sexuelle Belästigung liegt nach § 3 Abs. 4 AGG vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch sexuell bestimmte körperliche Berührungen und Bemerkungen sexuellen Inhalts gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird.

Dazu können auch einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweisen gehören. Schutzgut ist die sexuelle Selbstbestimmung als Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird als Recht verstanden, selbst darüber zu entscheiden, unter den gegebenen Umständen von einem anderen in ein sexual bezogenes Geschehen involviert zu werden. Das schließt es ein, selbst über einen Eingriff in die Intimsphäre durch körperlichen Kontakt zu bestimmen.

II. Sexualbezogenheit nicht erforderlich!

Die absichtliche Berührung primärer oder sekundärer Geschlechtsmerkmale eines anderen ist demnach bereits deshalb sexuell bestimmt im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG, weil es sich um einen auf die körperliche Intimsphäre gerichteten Übergriff handelt. Bei anderen Handlungen, die nicht unmittelbar das Geschlechtliche im Menschen zum Gegenstand haben, wie bspw. Umarmungen, kann sich eine Sexualbezogenheit aufgrund einer mit ihnen verfolgten sexuellen Absicht ergeben.

Aber: Ob eine Handlung sexuell bestimmt ist, hängt nicht allein vom subjektiv erstrebten Ziel des Handelnden ab. Erforderlich ist auch nicht notwendig eine sexuelle Motivation des Täters. Eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist immer häufig Ausdruck von Hierarchien und Machtausübung und weniger von sexuell bestimmter Lust.

Hinweis für die Praxis:

Der Betroffene muss seine ablehnende Einstellung zu den fraglichen Verhaltensweisen nicht zwingend aktiv verdeutlichen. Maßgeblich ist allein, ob die Unerwünschtheit der Verhaltensweise objektiv erkennbar war.

III. Vorherige Abmahnung prüfen!

Bei Vertragspflichtverletzungen, die auf steuerbarem Verhalten beruhen, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer durch eine Abmahnung positiv für die Zukunft beeinflusst werden kann. Einer Abmahnung bedarf es aber ausnahmsweise dann nicht, wenn bereits erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist.

Hinweis für die Praxis:

Dieser Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird zudem durch § 12 Abs. 3 AGG konkretisiert. Danach hat der Arbeitgeber u.a. auch bei sexuellen Belästigungen die geeigneten, erforderlichen und angemessenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen wie Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung zu ergreifen. Welche Maßnahmen er als verhältnismäßig ansehen darf, hängt von den konkreten Umständen, u.a. von ihrem Umfang und Intensität ab.

IV. Kriterien für die Beurteilung

Die Frage, in welchen Fällen eine Abmahnung entbehrlich ist, kann nicht pauschal beantwortet werden. Diese Frage hängt von der Intensität des Eingriffs, der Dauer der Betriebszugehörigkeit, der Einsichtigkeit und auch sonstigen Umständen ab. Im vorliegenden Fall sprechen allerdings viele Gründe gegen das Erfordernis einer vorherigen Abmahnung. So hat der Mitarbeiter schon bei der Anhörung vor Ausspruch der Kündigung die Tat bestritten, was auf seine Uneinsichtigkeit schließen lässt. Dann kann aber auch nicht davon ausgegangen werden, dass sein künftiges Verhalten durch eine Abmahnung positiv beeinflusst werden kann. Zudem war der Eingriff besonders schwerwiegend, denn der Mitarbeiter hat von hinten in den Genitalbereich des anderen Mitarbeiters gegriffen. Dieser war damit aufgrund seiner Körperhaltung und in Verrichtung einer Tätigkeit dem Kläger wehrlos ausgeliefert. Zu Lasten des Klägers fiel ferner ins Gewicht, dass er sich bereits im Vorfeld regelmäßig unangemessen gegenüber anderen Mitarbeitern verbal geäußert hat. All diese Fragen müssen nun von dem Landesarbeitsgericht erneut bewertet und entschieden werden.

Fazit:

Sexuelle Belästigungen stellen regelmäßig einen wichtigen Grund für den Ausspruch einer fristlosen Kündigung dar. Allerdings ist der Arbeitgeber bei solchen Vorwürfen dringend gehalten, den Sachverhalt umfassend und detailliert aufzuklären. Dazu gehören zunächst die Anhörungen aller beteiligten Mitarbeiter und die Aufklärung des Sachverhalts. Beweismittel müssen gesichert werden. Der Betriebsrat ist im Anschluss fristgerecht über den gesamten Sachverhalt sehr ausführlich zu informieren. Genau zu prüfen ist auch die Frage, ob nicht ausnahmsweise das mildere Mittel einer Abmahnung in Betracht kommt. Nur wenn all diese Fragen sorgfältig beantwortet werden, führt dies zu einem erfolgreichen Kündigungsschutzverfahren.

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