24.07.2019 -

Wir hatten über die notwendige und zwingende Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung vor Ausspruch einer Kündigung bereits berichtet. Das Arbeitsgericht Hagen hat in einer sehr wichtigen Entscheidung die Wirkung dieser neuen Vorschriften weiter präzisiert (Arbeitsgericht Hagen v. 6.3.2018, 5 Ca 1902/17). Das Urteil bezieht sich auf die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen ist: vor Ausspruch der Kündigung oder schon vor Antragstellung an das Integrationsamt? Das Arbeitsgericht bejaht letzteres. Die Hinweise des Arbeitsgerichts sind zwingend zu beachten, da andernfalls, selbst bei Vorliegen von Kündigungsgründen, die formelle Unwirksamkeit droht.


Das Arbeitsgericht Hagen klärte mit seinem Urteil die Frage, ob die Schwerbehindertenvertretung erst vor Ausspruch der Kündigung zu beteiligen ist oder schon vor Antragstellung an das Integrationsamt.
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Der Fall (verkürzt)

In dem Rechtsstreit geht es um die Wirksamkeit einer gegenüber der schwerbehinderten Klägerin ausgesprochenen betriebsbedingten Änderungskündigung. Die Klägerin hat einen Grad der Behinderung von 50. Sie arbeitet bei dem beklagten Arbeitgeber seit dem 1. Mai 2010 als kaufmännische Mitarbeiterin für die Abteilung Verkauf.

Aus nicht näher hier darzustellenden Gründen, zu denen auch ein Interessenausgleich und Sozialplan mit dem Betriebsrat vereinbart wurde, erklärte der Arbeitgeber eine betriebsbedingte Änderungskündigung zur Änderung der Tätigkeit. Wegen der Schwerbehinderung wurde zunächst die Zustimmung bei dem zuständigen Integrationsamt beantragt. Während des laufenden Zustimmungsverfahrens beteiligte der Arbeitgeber den Betriebsrat und auch die Schwerbehindertenvertretung. Nach erteilter Zustimmung wurde die betriebsbedingte Änderungskündigung ausgesprochen.

Die Klägerin beruft sich einerseits auf die Sozialwidrigkeit der Änderungskündigung. Die Voraussetzungen für eine betriebsbedingte Änderungskündigung lägen nicht vor. Andererseits wird die Rechtsunwirksamkeit der Änderungskündigung damit begründet, dass die Schwerbehindertenvertretung vor Ausspruch nicht ordnungsgemäß beteiligt worden sei.

Die Entscheidung

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben.

I. Beteiligung Schwerbehindertenvertretung

Bis zum 31. Dezember 2017 waren die Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung in § 95 SGB IX geregelt. Seit dem 1. Januar 2018 gilt die neue Nummerierung des Gesetzes. Die Regelungen finden sich nunmehr in § 178 SGB IX. Der Arbeitgeber hat die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen schwerbehinderten Menschen berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Zudem hat er der Schwerbehindertenvertretung die getroffene Entscheidung unverzüglich mitzuteilen, § 178 Abs. 2 SGB IX.

II. Anhörung vor Kündigung

Die Pflicht des Arbeitgebers zur Anhörung der Schwerbehindertenvertretung besteht bei allen Kündigungen und damit auch bei Änderungskündigungen schwerbehinderter oder gleichgestellter Arbeitnehmer. Diese Pflicht besteht auch unabhängig davon, dass das Integrationsamt gem. § 170 Abs. 2 SGB IX eine Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung einzuholen hat. Eine solche Stellungnahme im behördlichen Zustimmungsverfahren ersetzt die notwendige und zwingende vorherige Anhörung nicht.

III. Zeitpunkt der Anhörung beachten!

Die Unterrichtung hat „unverzüglich und umfassend“ zu erfolgen. Die Unverzüglichkeit fordert vom Arbeitgeber, die Schwerbehindertenvertretung ohne schuldhaftes Zögern sofort anzuhören, sobald er seinen Kündigungswillen gebildet hat. Die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung muss daher am Beginn der vom Arbeitgeber zu treffenden Maßnahmen stehen. Die Zustimmung des Integrationsamtes darf erst danach beantragt werden. Die Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung ist daher nach Auffassung des Arbeitsgerichts Hagen nur dann unverzüglich, wenn der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung vor dem Antrag auf Zustimmung zur Kündigung nach den §§168 ff. SGB IX unterrichtet und anhört.

Dies ist hier nicht geschehen. Das Arbeitsgericht hat daher die Unwirksamkeit der Kündigung schon aus diesen Gründen festgestellt und die Frage, ob betriebsbedingte Gründe vorliegen, nicht mehr geprüft.

Hinweis für die Praxis:

Die Anhörung kann auch nicht nachgeholt werden. Wurde die Kündigungsentscheidung ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung getroffen und der Zustimmungsantrag gestellt, bleibt dem Arbeitgeber daher nur die Möglichkeit, den Antrag zurückzunehmen und nach ordnungsgemäßer Unterrichtung und Anhörung der Schwerbehindertenvertretung einen erneuten Antrag zu stellen. Die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung und der Ablauf des Zustimmungsverfahrens nach den §§168 ff. SGB IX ist genau zu prüfen. Jeder formale Fehler führt zur Unwirksamkeit. Arbeitgeber sind daher gut beraten, sich mit den Feinheiten des Zustimmungsverfahrens zu befassen, um Rechtsnachteile zu vermeiden.

Ausführlich zu dieser Thematik auch in: Nicolai Besgen, Schwerbehindertenrecht Arbeitsrechtliche Besonderheiten 3. Aufl. 2018

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