05.12.2019

Der Urteilsverfassungsbeschwerde liegt ein spektakulärer Sachverhalt zugrunde: Im Jahr 1981 erschoss ein Mann – der heutige Führer der Verfassungsbeschwerde – auf einem Segelschiff im Streit zwei Menschen. Der Täter musste wegen Mordes für 17 Jahre ins Gefängnis. Aus dem Stoff entstanden – ohne Beteiligung des Täters – erst ein Buch und dann ein Film.

Seine Strafe hat der Täter zwar verbüßt, aber einem „neuen Leben“ steht die im Online-Archiv eines Verlages mit seinem Namen verbundene und von Suchmaschinen auffindbare sachliche Berichterstattung aus den 1980er Jahren entgegen. Die Frage lautet daher: Steht dem Beschwerdeführer heute, fast 40 Jahre nach der Tat, ein „Recht auf Vergessen werden“ zu oder überwiegt die Pressefreiheit und damit auch ein zeitgeschichtliches Interesse der Allgemeinheit?

Mit Beschluss vom 06. November 2019, Az.: 1 BvR 16/13, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass bei der Berichterstattung im Internet kein absoluter Vorrang des Persönlichkeitsrechtes vor der Pressefreiheit besteht.


Bei der Berichterstattung im Internet haben laut aktuellem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts die Persönlichkeitsrechte keinen absoluten Vorrang vor der Pressefreiheit. (Copyright: Klaus Eppele/adobe.stock)

Das Recht auf Vergessen werden

Das sog. „Recht auf Vergessen werden“ ist heute in Art. 17 DSGVO normiert. Es soll der Tatsache begegnen, dass eine immer größere Anzahl von personenbezogenen Daten von allen Beteiligten offengelegt wird und dass damit erhebliche Auswirkungen für die betroffene Person verbunden sind. Dem liegt unter anderem folgende beachtliche Erwägung des Bundesverfassungsgerichtes zugrunde (Rn. 85):

„Auch auf das Verhältnis zwischen Privaten gewinnen die Auswirkungen der technischen Möglichkeiten der Datenverarbeitung immer mehr an Bedeutung. In allen Lebensbereichen werden zunehmend für die Allgemeinheit grundlegende Dienstleistungen auf der Grundlage umfänglicher personenbezogener Datensammlungen und Maßnahmen der Datenverarbeitung von privaten, oftmals marktmächtigen Unternehmen erbracht, die maßgeblich über die öffentliche Meinungsbildung, die Zuteilung und Versagung von Chancen, die Teilhabe am sozialen Leben oder auch elementare Verrichtungen des täglichen Lebens entscheiden.“

Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass es im digitalen Zeitalter zur Preisgabe personenbezogener Daten keine Alternative gibt. Vor diesem Hintergrund wird das Recht des Betroffenen auf Löschung von dem Erfordernis flankiert, dass der Verantwortliche im Falle der Veröffentlichung auch die weitere Verbreitung im Rahmen seiner Möglichkeiten verhindern muss (Art. 17 Abs. 2 DSGVO).

Zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, des Europäischen Gerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 13. November 2012 (Az.:VI ZR 330/11). Der Bundesgerichtshof war der Auffassung, dass bei einer ursprünglich zulässigen Berichterstattung auch heute noch die Pressefreiheit das Betroffenen-Interesse überwiegt. Diese Auffassung steht in einer Linie mit der grundsätzlichen Annahme des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Nach dessen Rechtsprechung dürfen Anforderungen an den Persönlichkeitsschutz nicht so gestaltet sein, dass sie der Presse berechtigten Grund geben, auf eine individualisierende Berichterstattung ganz zu verzichten (vgl. EGMR, M. L. und W. W. v. Deutschland, Urteil vom 28. Juni 2018, Nr.  60798/10 und 65599/10, §§ 104, 105).

Eine andere Linie verfolgt der Europäische Gerichtshof: Nach dessen Rechtsprechung überwiegt grundsätzlich das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen das wirtschaftlichen Interesse eines Suchmaschinenbetreibers und auch das Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu der Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche (Urteil vom 13. Mai 2014, Az.: C-131/12 – Google Spain).

Das Bundesverfassungsgericht hat diese unterschiedlichen Strömungen aufgegriffen und das Puzzle aus Sicht des Grundgesetzes vervollständigt. Im Rahmen einer offenen Güterabwägung müssen Pressefreiheit, Informationsfreiheit und Persönlichkeitsrecht gegeneinander abgewogen werden. Hierbei handelt es sich um eine Entscheidung im Einzelfall. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes kann man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit Professor Hoeren (ITM Münster) durchaus als Stärkung der Pressefreiheit verstehen

Folgen für die Nennung von Klarnamen im Internet

Die Nennung von Klarnamen im Internet im Zusammenhang mit Berichterstattungen ist grundsätzlich zulässig. Dies stand im vorliegenden Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht für die ursprüngliche Veröffentlichung auch außer Streit. Aber es stellt sich die Frage, ob ein zunächst rechtmäßig veröffentlichter Bericht auch nach dem Ablauf vieler Jahre unter den dadurch veränderten Umständen weiterverbreitet werden darf. Diese Frage ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Einzelfall zu entscheiden. Neben der Dauer kommt es darauf an, welche Bedeutung der Sachverhalt für die zeitgeschichtliche Bewertung hat. Dafür ist beispielsweise die anfängliche Dauer und Intensität der Diskussion über den Sachverhalt relevant. Aber auch das Verhalten des Betroffenen spielt eine Rolle: Wie ist er selbst mit den Daten umgegangen? Hat er Interviews gegeben? Hat er vielleicht selbst den Sachverhalt wirtschaftlich verwertet? Hier wäre die Entscheidung vielleicht anders ausgefallen, wenn der Beschwerdeführer das Buch zum Fall selbst geschrieben hätte.

Das Bundesverfassungsgericht hat dabei auch klargestellt, dass das Persönlichkeitsrecht kein einseitiges Verfügungsrecht über die Informationen auf Seiten des Betroffenen generiert (Rn. 107):

„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist kein Rechtstitel gegen ein Erinnern in historischer Verantwortung.“

Ausblick

Die vom Bundesverfassungsgericht statuierte Prüfung im Einzelfall setzt Maßstab im Umgang mit personenbezogen Daten im Hinblick auf spätere Löschungspflichten und -verlangen. Es eröffnet große Chancen bei der Argumentation rund um Löschungsverlangen von Betroffenen nicht nur mit strafrechtlichem Bezug. Bereits jetzt sollten Sie bei langfristig geplanten Veröffentlichungen im Internet Vorsorge treffen. Wir unterstützen Sie bei der Argumentation zur Güterabwägung im Einzelfall.

UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME

Sprechblasen

UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME

Sind Sie unsicher, ob Sie mit Ihrer Angelegenheit bei uns richtig sind?
Nehmen Sie gerne unverbindlich Kontakt mit uns auf und schildern uns Ihr Anliegen.
Wir freuen uns auf Ihren Anruf.

Kontakt aufnehmen