10.03.2020 -

Nach § 3 BetrVG können vom allgemeinen Betriebsbegriff abweichende Betriebsstrukturen durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung festgelegt werden. Regelmäßig werden mehrere Betriebsstätten zu einer neuen Einheit zusammengefasst. Das BAG hatte nun zu entscheiden, ob diese neue Einheit wiederum den Betriebsbegriff im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes erfüllt oder ob die alten Betriebsstrukturen erhalten bleiben und lediglich eine rein formale Zusammenfassung nach § 3 BetrVG erfolgt (BAG v. 27.06.2019, 2 AZR 38/19). Die Frage ist von großer praktischer Bedeutung und kann über die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Kündigung entscheiden. Im vorliegenden Fall ging es dabei um die Kündigung eines Betriebsratsmitglieds.


Die Frage, ob bei einer durch Zusammenschluss entstandenen Betriebseinheit lediglich eine rein formale Zusammenfassung nach § 3 BetrVG erfolgt, kann über die Wirksamkeit und Unwirksamkeit von Kündigungen entscheiden. (Copyright: artefacti/adobe.stock) 

Der Fall (verkürzt)

Das beklagte Unternehmen hat mit der IG Metall einen Strukturtarifvertrag nach § 3 BetrVG abgeschlossen. Danach wurden die Betriebsstätten der betreffenden Unternehmen in H, B und L mit Wirkung ab Mai 2016 zu einer betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheit zusammengefasst, für die ein Betriebsrat gewählt wurde.

Der klagende Arbeitnehmer war der Betriebsstätte des beklagten Arbeitgebers in B zugeordnet und Mitglied des gewählten Betriebsrats.

Der Arbeitgeber schloss die Betriebsstätte in B vollständig und kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis nach Anhörung des Betriebsrats ordentlich zum 30. Juni 2018.

Der Arbeitnehmer und Betriebsrat erhob dagegen rechtzeitig Kündigungsschutzklage. Nach seiner Rechtsauffassung konnte ihm als Betriebsratsmitglied nicht ordentlich nach § 15 Abs. 4 oder Abs. 5 KSchG gekündigt werden. Vielmehr sei die ordentliche Kündigung nach § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG ausgeschlossen gewesen, da nicht der gesamte nach § 3 BetrVG gebildete Betrieb mit allen Betriebsstätten geschlossen wurde.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Kündigungsschutzklage stattgegeben.

Die Entscheidung

Im Revisionsverfahren hat das BAG die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Die Annahme der Vorinstanzen, dem Betriebsratsmitglied hätte nicht ordentlich gekündigt werden können, weil der nach dem Strukturtarifvertrag gebildete Gemeinschaftsbetrieb nicht insgesamt stillgelegt worden sei, sei unzutreffend.

I. Kein Gemeinschaftsbetrieb

Ein nach § 3 BetrVG zusammengefasster Betrieb führt nicht automatisch zu einem Gemeinschaftsbetrieb (gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen) i.S.v. § 1 Abs. 2 BetrVG. Zwar kann ein Betrieb von mehreren Arbeitgebern als gemeinsamer Betrieb geführt werden. Die in einem Strukturtarifvertrag nach § 3 BetrVG getroffene Abrede kann aber die für die Annahme eines Gemeinschaftsbetriebs notwendigen Organisationsstrukturen nicht per se ersetzen. Vielmehr müssen die Voraussetzungen für einen Gemeinschaftsbetrieb, die nach der Rechtsprechung erforderlich sind, auch bei einem zusammengefassten durch Tarifvertrag gebildeten Betrieb nach § 3 BetrVG vorliegen.

Hinweis für die Praxis

Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der nach § 3 BetrVG durch Tarifvertrag gebildete Betrieb begründe einen Gemeinschaftsbetrieb, war also unzutreffend. Ein Gemeinschaftsbetrieb liegt nur dann vor, wenn die speziellen Voraussetzungen für einen Gemeinschaftsbetrieb gegeben sind, was hier nicht der Fall war.

II. Ordentliche Kündbarkeit eines Betriebsratsmitglieds

Die Kündigung eines Betriebsratsmitglieds ist ausnahmsweise dann nach § 15 Abs. 4 oder Abs. 5 KSchG zulässig, wenn der Betrieb insgesamt oder eine Betriebsabteilung geschlossen werden. Vorliegend stellte sich also die Frage, ob die Schließung der Betriebsstätte B in diesem Sinne eine Betriebsschließung nach § 15 Abs. 4 KSchG war. Wäre dies der Fall, konnte das Betriebsratsmitglied ordentlich nach § 15 Abs. 4 KSchG gekündigt werden.

Das BAG hat dazu klargestellt, dass eine aufgrund einer Vereinbarung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 BetrVG errichtete betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit für sich genommen ohne entsprechende Organisationsstruktur keinen Betrieb i.S.d. § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG darstellt. Vielmehr schaffen die Beteiligten mit einer Vereinbarung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 BetrVG gerade eine von den tatsächlichen betrieblichen Strukturen abweichende betriebsverfassungsrechtliche Ordnung und lösen den Betriebsrat vom „Betrieb als ausschließliche Organisationsbasis“.

Hinweis für die Praxis

Der nach dem Kündigungsschutzgesetz und auch dem Betriebsverfassungsgesetz geltende Betriebsbegriff bleibt also vollständig unberührt, selbst wenn der Arbeitgeber eine abweichende betriebliche Organisationsstruktur nach § 3 BetrVG durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung festlegt.

III. Keine Fiktion des Betriebes

Das BAG hat weiter klargestellt, dass auch keine Fiktion eines Betriebes gem. § 3 Abs. 5 S. 1 BetrVG erfolgt. Es handelt sich bei einer gewillkürten Einheit gem. § 3 BetrVG um eine allein auf das Betriebsverfassungsgesetz begrenzte Fiktion, die für das Kündigungsschutzgesetz ohne Bedeutung ist. Auch § 3 Abs. 5 S. 2 BetrVG führt zu keiner anderen Beurteilung. Hierbei geht es nur um die persönliche Rechtsstellung der Mitglieder eines gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 BetrVG gewählten Betriebsrats. Die Norm enthält keine Aussage darüber, auf welche Einheit bei der Prüfung einer Betriebsstilllegung abzustellen ist.

Fazit

Der Entscheidung des BAG ist in vollem Umfang zuzustimmen. Sie führt zu Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Gewillkürte Betriebsstrukturen nach § 3 BetrVG beziehen sich allein auf den zu wählenden Betriebsrat. Am eigentlichen Betriebsbegriff im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes ändern sie nichts. Wird also eine zusammengefasste Einheit, die für sich genommen den Betriebsbegriff erfüllt, stillgelegt, können die in dieser Einheit beschäftigten Betriebsratsmitglieder ordentlich gem. § 15 Abs. 4 KSchG gekündigt werden. Die für einen Gemeinschaftsbetrieb aufgestellten Grundsätze einer übergreifenden Sozialauswahl und einer Weiterbeschäftigungspflicht im Gemeinschaftsbetrieb bestehen nur dann, wenn tatsächlich auch die Voraussetzungen eines Gemeinschaftsbetriebes vorliegen. Eine gewillkürte Betriebsstruktur nach § 3 BetrVG erfüllt diese Voraussetzungen nicht.

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