07.10.2020 -

Die Corona-Pandemie hat viele Arbeitgeber sehr kurzfristig gezwungen, weitreichende Maßnahmen zu treffen, um auf die neue Situation schnell und angemessen zu reagieren. Viele Betriebsräte haben in dieser Situation ihre Mitbestimmungsrechte zurückgestellt und die Entscheidungen der Arbeitgeberseite mitgetragen. Rechtlich gibt es dazu jedoch keine Grundlage. Die Mitbestimmungsrechte gelten umfassend auch während einer Pandemie. Soweit daher der Arbeitgeber mitbestimmungspflichtige Entscheidungen trifft und diese ohne Beteiligung des zuständigen Betriebsrates umsetzt, kann das Betriebsratsgremium die Durchsetzung seiner Rechte einfordern, notfalls im Wege eines einstweiligen Verfügungsverfahrens. Mit einem solchen Fall hatte sich nun das Arbeitsgericht Wesel zu befassen (ArbG Wesel v. 24.04.2020, 2 BVGa 4/20). Im konkreten Fall ging es um Abstandsmessungen mittels Videoüberwachung. Wir möchten diese wichtige Entscheidung zum Anlass nehmen, auf die Spannungen zwischen dem Betriebsverfassungsgesetz und der unternehmerischen Handlungspflicht hinzuweisen.


Die Herausforderungen der Corona-Pandemie können innerbetrieblich zu Konflikten führen (Copyright: Halfpoint/adobe.stock).

Der Fall (verkürzt)

Der Betriebsrat nimmt den Arbeitgeber im Wege der einstweiligen Verfügung wegen der Verletzung seiner Mitbestimmungsrechte auf Unterlassung in Anspruch.

Der Arbeitgeber betreibt ein Logistikunternehmen. Das Unternehmen beschäftigt ca. 1.630 Mitarbeiter. Der Betriebsrat besteht aus 17 Mitgliedern.

Die Betriebspartner haben bereits eine Betriebsvereinbarung zur Installation und Nutzung von Überwachungskameras vereinbart.

Während der Corona-Pandemie ermittelte der Arbeitgeber mittels der auf dem Betriebsgelände installierten Kameras solche Bereiche, in denen die im Betrieb anwesenden Personen (Mitarbeiter, Auftragnehmer, Geschäftspartner und andere Besucher) im Rahmen der Corona-Pandemie empfohlenen Sicherheitsabstände nicht einhalten können. Aus vorhandenen Aufnahmen der im Betrieb installierten Videokameras werden mittels einer Anonymisierungssoftware in einem Intervall von fünf Minuten automatisiert Standbilder generiert. Die Software erkennt Personen, erfasst die Anzahl von Personen auf einem Bild und teilt die Standbilder in verschiedene Kategorien ein.

Für weitere Maßnahmen werden dann ausschließlich Bilder der Kategorie 3 verwendet. Hierbei handelt es sich um Standbilder mit zwei oder mehr Personen. Die abgebildeten Personen werden verpixelt. Alle anderen Bilder der Kategorien 1 und 2 werden nicht bearbeitet oder weiter genutzt.

Die verpixelten Standbilder Kategorie 3 werden dann an spezielle Mitarbeiter zur Auswertung weitergeleitet. Diese ermitteln anhand der verpixelten Standbilder, ob ein Sicherheitsabstand von zwei Metern eingehalten worden ist. Ist dies nach ihrer Einschätzung nicht der Fall, wird notiert wann und wo das Bild aufgenommen wurde und wieso ein möglicher Verstoß gegen Abstandsregelungen vorliegt. Das Ergebnis dieser Prüfung wird in einem Reportingtool erfasst.

Die verwendete Anonymisierungssoftware arbeitet auf Datenservern in Dublin, Irland. Alle generierten Standbilder aller Kategorien werden für sieben Tage gespeichert und danach automatisiert gelöscht.

Der Betriebsrat hat den Arbeitgeber aufgefordert, die Übermittlung und Auswertung der Kameradaten zum Zwecke der Abstandsmessungen einzustellen und seine Mitbestimmungsrechte einzuhalten. Dem ist der Arbeitgeber nicht nachgekommen.

Der Betriebsrat hat daraufhin ein einstweiliges Verfügungsverfahren gerichtet auf Unterlassung eingeleitet.

Die Entscheidung

Das Arbeitsgericht hat der Unterlassungsverfügung stattgegeben.

I. Mitbestimmungsrechte nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG

Nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten und die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen. Dabei ist von einer Bestimmung zur Überwachung bereits dann auszugehen, wenn die technische Einrichtung zur Überwachung objektiv geeignet ist, wenn sie also individualisierte oder individualisierbare Verhaltens- oder Leistungsdaten selbst erhebt und aufzeichnet. Auf die subjektive Überwachungs- oder Verwendungsabsicht des Arbeitgebers kommt es dabei nicht an.

Offensichtlich handelte es sich bei den vorliegend installierten Kameras um technische Einrichtungen in diesem Sinne. Allerdings hatten die Betriebspartner dazu bereits eine Betriebsvereinbarung vereinbart. Insoweit konnte sich der Betriebsrat auf die Verletzung von Mitbestimmungsrechten wegen der Installation von Kameras nicht berufen.

Allerdings gab es in der Betriebsvereinbarung eine spezielle Regelung für die Nutzung der Kameraaufnahmen. Diese sollte nach § 7.1 der BV ausschließlich auf lokalen Netzwerkrecordern gespeichert werden. Auch sollte die Auswertung der aus der Kameraüberwachung gewonnenen Daten nur den in der BV genannten Personen erlaubt sein. Nach der BV war eine Weitergabe des Bildmaterials an Dritte sogar ausgeschlossen.

Hier wurden unstreitig die Daten nach Irland übermittelt und dort ausgewertet und/oder gelöscht bzw. vorübergehend gespeichert. Damit erfolgte eine Speicherung entgegen den Regelungen in der bestehenden BV. Für die erweiterte Nutzung im Rahmen der Abstandsmessungen hätte daher der Arbeitgeber den Betriebsrat erneut beteiligen müssen.

II. Mitbestimmungsfreie Maßnahme wegen Corona-Pandemie?

Das Arbeitsgericht hat dann weiter geprüft, ob die Maßnahmen ggf. als Notfall und besonders eilbedürftig anzusehen waren. Das Arbeitsgericht hat dies aber verneint. Die Arbeitgeber sind auch während der Corona-Pandemie gehalten, die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats zu wahren. Ein Notfall, der zur Abwendung akuter Gefahren oder Schäden ein sofortiges Handeln notwendig gemacht hätte, lag hier nicht vor. Natürlich sind Maßnahmen zur Abstandsüberwachung geeignet und erforderlich, um die Ausbreitung des Corona-Virus im Betrieb zu vermeiden und damit den Schutz der Arbeitnehmer zu bezwecken. Allein die mögliche und kontinuierliche Ausbreitung des Virus führt jedoch nicht dazu, dass er bereits als akute Gefahr für den Betrieb und damit als extremer Notfall anzusehen ist.

III. Ausschluss der Überwachung?

Schließlich hat sich das Arbeitsgericht noch mit der Frage befasst, ob hier die Daten überhaupt individualisiert ausgewertet werden konnten. Die Erhebung oder Verarbeitung anonymisierter Daten unterliegt nicht der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG. Eine Überwachung ist nur gegeben, wenn die erhobenen Verhaltens- oder Leistungsdaten einzelnen Arbeitnehmern zugeordnet werden können, also individualisiert oder individualisierbar sind. Dies setzt allerdings voraus, dass die Anonymisierung dauerhaft erfolgt und nicht wieder aufgehoben werden kann. Dazu konnte sich vorliegend der Arbeitgeber nicht erklären. Zudem wurden die Daten zunächst nach Irland übermittelt, also in nicht anonymisierter Form. Es hat keinen Einfluss auf das Bestehen der Mitbestimmungsrechte, dass der Arbeitgeber die Auswertung der Daten einem Dritten überlässt.

Fazit

Die Herausforderungen der Corona-Pandemie können innerbetrieblich zu Konflikten führen. Mögen die Betriebspartner anfänglich noch im Wege der vertrauensvollen Zusammenarbeit schnelle und einvernehmliche Lösungen vereinbart haben, ggf. auch ohne formale Einhaltung der Mitbestimmungsrechte, führt dies jedoch nicht zu einem mitbestimmungsfreien Handlungszustand für die Arbeitgeberseite. Betriebsräte können sich jederzeit auf die Einhaltung der Mitbestimmungsrechte (wieder) berufen. Es gibt auch keine zulässige Regelung, wonach Mitbestimmungsrechte nicht einzuhalten sind. Die Regeln einer betrieblichen Übung finden (natürlich) keine Anwendung. In Fällen, in denen die Persönlichkeitsrechte der Mitarbeiter besonders betroffen sind, was bei jeglichen Überwachungsmaßnahmen stets der Fall ist, sollten sich daher die Betriebspartner frühzeitig zusammensetzen, um Verzögerungen bei der Umsetzung der Maßnahmen zu vermeiden.

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