05.09.2005 -

Die Vorschrift zum 1. Mai 2004 eingeführte neue Vorschrift des § 84 Abs. 2 SGB IX verpflichtet Arbeitgeber, für länger oder wiederholt kranke Mitarbeiter ein betriebliches Eingliederungsmanagement anzubieten. Ziel ist es, die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden und zu klären, mit welchen Leistungen oder Hilfen erneute Arbeitsunfähigkeit vermieden und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Die Pflicht greift ein, wenn Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind. Der Begriff des Beschäftigten hat eine Diskussion ausgelöst, für welche Arbeitnehmer die Pflicht des betrieblichen Eingliederungsmanagements greift. Den aktuellen Stand in der Fachliteratur möchten wir nachfolgend zusammenfassen.

I. Bedeutung der Frage

Die Frage, für welche Beschäftigten das betriebliche Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX durchzuführen ist, ist von weit reichender praktischer Bedeutung. Wird nämlich das betriebliche Eingliederungsmanagement nicht durchgeführt, können sich schwerwiegende Folgen bei der krankheitsbedingten Kündigung von Arbeitnehmern ergeben. Der Arbeitgeber muss mit dem Einwand rechnen, dass die Kündigung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht entspricht, weil er dem betroffenen Arbeitnehmer vor der Kündigung nicht die in § 84 Abs. 2 SGB IX vorgesehene Klärung zum Zweck der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses angeboten hat. Es ist deshalb von erheblicher Praxisrelevanz, ob die Vorschrift lediglich für die unter den Anwendungsbereich des SGB IX fallenden Arbeitnehmer gilt oder aber für alle Beschäftigten des Betriebes, unabhängig von einer bestehenden Schwerbehinderung bzw. Behinderung.

II. Herrschende Meinung

In der überwiegenden arbeitsrechtlichen Literatur und neuerdings auch in der Instanzrechtsprechung wird zumeist ohne Begründung davon ausgegangen, dass § 84 Abs. 2 SGB IX für alle Beschäftigten gilt, soweit sie die weiteren Voraussetzungen erfüllen. Angeführt wird insbesondere der Wortlaut, der anders als bei § 84 Abs. 2 SGB IX a.F. nicht mehr von Schwerbehinderten spricht (jetzt „Beschäftigte“). Auch sei die Ausweitung angesichts des Präventionscharakters der Maßnahmen zweckmäßig, da im Wege einer „Reha statt Entlassung“ krankheitsbedingte Kündigungen bei allen Arbeitnehmern durch Eingliederungsmanagement verhindert werden können.

III. Bessere Argumente für eingeschränkten Anwendungsbereich!

Geht man nach den üblichen Auslegungsmethoden vor (Gesetzesbegründung, Sinn und Zweck, Systematik, Wortlaut) sprechen jedoch die besseren Argumente für einen eingeschränkten Geltungsbereich.

Der Wortlaut hilft zunächst nur eingeschränkt weiter. Zwar ist der Begriff des Beschäftigten weiter als der des Schwerbehinderten. Allerdings wird bei Schwerbehinderten neben der Interessenvertretung auch die Schwerbehindertenvertretung eingeschaltet. Letztere ist für Behinderte unter 50 GdB hingegen nicht zuständig. Die Gesetzesbegründung geht auf die Frage, welcher Personenkreis erfasst sein soll, nicht ein. Da sich die Altfassung ausdrücklich auf Schwerbehinderte bezog, hätte es allerdings nahe gelegen, eine Ausweitung der Vorschrift an irgendeiner Stelle anzudeuten oder zu benennen. Hier könnte man also den Umkehrschluss ziehen, dass sich die mit dem Gesetz verfolgten Ziele lediglich auf behinderte und schwer behinderte Menschen (weiterhin) beziehen sollen.

Sinn und Zweck der Vorschrift ist schlagwortartig: „Reha vor Entlassung“. Dieser Grundsatz kann sich zwar auch auf alle Arbeitnehmer beziehen. Bedenkt man aber, dass auch leichte Erkrankungen schnell zu einem mehrwöchigen Ausfall über die Sechs-Wochen-Frist hinaus führen können und nicht in allen diesen Fällen Maßnahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements angezeigt sind, insbesondere wenn eine abschließende Ausheilung vorliegt, gilt dieser Grundsatz gerade nicht uneingeschränkt. Nicht bei jeder Krankheit ist eine Maßnahme des betrieblichen Eingliederungsmanagements daher sinnvoll und angezeigt.

Systematisch hingegen befindet sich die Vorschrift des § 84 SGB IX im zweiten Teil des SGB IX. Dieser ist überschrieben mit besondere Regelung zur Teilhabe schwer behinderter Menschen (Schwerbehindertenrecht). Ein Teil der Literatur kommt insoweit ebenfalls zu dem Ergebnis, dass nur Schwerbehinderte und ihnen Gleichgestellte von § 84 Abs. 2 SGB IX erfasst sind und eine andere Auslegung aufgrund des Standortes im zweiten Teil des SGB IX systemwidrig ist. Diese Auslegung ist aus unserer Sicht dahingehend zu erweitern, dass mit Beschäftigten in § 84 Abs. 2 SGB IX gerade in Abgrenzung zum zweiten Halbsatz sowie zum Abs. 1 die Behinderten an sich gemeint sind. Es gilt also die Definition in § 2 SGB IX für den Begriff des Beschäftigten.

Hinweise für die Praxis:

Verstöße des Arbeitgebers gegen die Vorschrift des § 84 SGB IX begründen keine Ordnungswidrigkeit nach § 156 SGB IX.

Aus betriebsverfassungsrechtlicher Sicht wird man allerdings einen Anspruch des Betriebsrats auf Einführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements bejahen müssen, § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG.

Für die Auswirkungen auf eine krankheitsbedingte Kündigung wird in der zitierten Literatur – unabhängig von der Auslegung des Beschäftigtenbegriffs – einheitlich davon ausgegangen, dass die ohne Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements ausgesprochene Kündigung in der Regel unverhältnismäßig und damit sozialwidrig ist. Teilweise wird sogar ein Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers bei Nichtbeachtung erwogen.

Bis zur höchstrichterlichen Klärung ist es zu empfehlen, jedenfalls bei solchen Arbeitnehmern, die überdurchschnittlich lang krank sind und bei denen auch mit einer kurzfristigen Rückkehr bzw. Ausheilung nicht zu rechnen ist, das betriebliche Wiedereingliederungsmanagement anzuwenden. Da ohnehin nur bei diesen Betroffenen eine krankheitsbedingte Kündigung möglich ist, besteht deshalb im „normalen“ Krankheitsfall kaum ein Risiko bei unterbliebenem Eingliederungsmanagement.

Verfasser: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Nicolai Besgen

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