Das OLG Schleswig den qualifiziert faktischen Konzern wiederbelebt – unklar ist, für wie lange… (credit: adobestock)
Die Haftung in dem qualifiziert faktischen (GmbH-)Konzern ist nur noch älteren juristischen Semestern ein Begriff. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Haftung mit Urteil vom 16. September 1985 – II ZR 275/84 (“Autokran“) aus der Taufe gehoben und mit Urteil vom 17. September 2001 – II ZR 178/99 („Bremer Vulkan“) wieder beerdigt. Seitdem war es ruhig geworden um die Haftung eines Gesellschafters in einem qualifiziert faktischen Konzern. Das OLG Schleswig hat mit Urteil vom 29. September 2021 – 9 U 11/21 – den qualifiziert faktischen Konzern wiederbelebt. Es bleibt abzuwarten, ob ihm ein langes neues Leben beschert ist.
Der Fall:
Der Kläger ist Insolvenzverwalter über eine in Deutschland ansässige Gesellschaft („Insolvenzschuldnerin“). Beklagter ist der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin. Der Kläger nimmt den Beklagten auf Zahlungen nach Insolvenzreife gemäß § 64 GmbHG a.F. (nunmehr § 15b InsO) in Anspruch. Gesellschafterin der Insolvenzschuldnerin war eine AG mit Sitz in der Schweiz, die A Holding AG. Eine Schwestergesellschaft der Insolvenzschuldnerin, die AC AG, hatte ebenfalls ihren Sitz in der Schweiz. Die A Holding AG war alleinige Gesellschafterin der Schuldnerin sowie der AC AG. Der Beklagte war neben seiner Stellung als Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin Präsident des Verwaltungsrates der A Holding AG sowie der AC AG. Zusätzlich war der Beklagte zu 54 % am Kapital der A Holding AG beteiligt. Der Beklagte führte die Insolvenzschuldnerin sowie die AC AG nach den Feststellungen des Landgerichts wie ein einheitliches Unternehmen. Sowohl die A Holding AG als auch die AC AG haben Liquiditätsengpässe und Verluste der Insolvenzschuldnerin ausgeglichen.
Aufgrund eines Großbrandes am 12. Juni 2009 wurde der gesamte Betrieb der Insolvenzschuldnerin in Deutschland zerstört. Die Sachversicherer haben eine Einstandspflicht abgelehnt. Im Anschluss ist der Konzern in Schieflage geraten. Die in Deutschland ansässige Gesellschaft musste Insolvenz anmelden.
Der Kläger hat den Beklagten erstinstanzlich auf Rückzahlung von 720.758,17 € wegen unzulässiger Zahlungen nach Eintritt der Überschuldung verklagt. Die Klage hatte vor dem Landgericht keinen Erfolg. Im Berufungsverfahren verfolgte der Kläger seinen Antrag in Höhe von 99.572,29 € weiter. Auch mit der Berufung blieb er erfolglos.
Die Entscheidung:
Das Urteil enthält mehrere Gesichtspunkte. Relevant für diese Besprechung ist die Überschuldung. Der Insolvenzverwalter hat die Haftung auf Zahlungen der Insolvenzschuldnerin nach Eintritt der Überschuldung gemäß § 19 InsO gestützt. Gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO liegt Überschuldung vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten 12 Monaten ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Das Landgericht hat eine Überschuldung der Insolvenzschuldnerin nicht feststellen können. Das OLG Schleswig hat dem Landgericht Recht gegeben. Nach OLG Schleswig könne die Insolvenzschuldnerin einen Anspruch auf Verlustübernahme gemäß § 302 AktG analog gegenüber ihrer Gesellschafterin, der A Holding AG, geltend machen. Dieser Anspruch auf Verlustübernahme gegenüber der Gesellschafterin sei werthaltig und könne aktiviert werden. Dadurch liege keine bilanzielle Überschuldung vor. Diese Sicht der Dinge kommt für die Rechtspraxis unerwartet.
Der BGH hat mit Urteil vom 16. September 1985 die Haftung des „herrschenden“ Unternehmens im Falle eines qualifiziert faktischen (GmbH-)Konzerns begründet. Eine solche Haftung eines herrschenden Unternehmens trat ein, wenn ein Gesellschafter die Geschäfte der abhängigen Gesellschaft dauernd und umfassend selbst geführt, die Gesellschaft finanziell und ggf. auch vermögensmäßig in den Gesamtverbund eingegliedert und auf die „Selbstständigkeit“ der beherrschten Gesellschaft keinerlei Rücksicht genommen habe. Liegen diese Voraussetzungen vor, war es nach der damaligen Rechtspraxis denkbar, dass die abhängige Gesellschaft (in dem Fall des OLG Schleswig die Insolvenzschuldnerin) einen Anspruch auf jährliche Verlustübernahme gemäß § 302 AktG (analog) hat und Gläubiger der beherrschten Gesellschaft gemäß § 303 AktG (analog) bei Beendigung der faktischen Beherrschung Sicherheitsleistungen von dem „herrschenden Unternehmen“ verlangen können. Eine Beendigung der faktischen Beherrschung liege auch vor, wenn die abhängige Gesellschaft insolvent werden würde. Der Anspruch auf Sicherheitsleistung wandele sich dann in einen Anspruch auf Ausgleich der Verluste. Einen solchen Anspruch könnte auch ein Insolvenzverwalter der beherrschten Gesellschaft gegenüber dem herrschenden Unternehmen geltend machen. Diese Rechtsfigur der Haftung im qualifiziert faktischen Konzern hat der BGH mit Urteil vom 17. September 2001 (Bremer Vulkan) aufgegeben und stattdessen andere Haftungskonzepte entwickelt.
Das OLG Schleswig hat diese Rechtsfigur des qualifiziert faktischen Konzerns wiederaufleben lassen. Die Voraussetzungen einer einheitlichen Führung sowie einer fehlenden Rücksichtnahme auf ein finanzielles Eigeninteresse der beherrschenden Gesellschaft waren aus Sicht des OLG Schleswig erfüllt. Die Insolvenzschuldnerin hatte daher einen Anspruch auf Verlustübernahme gemäß § 302 AktG analog gegen die Gesellschafterin, die A Holding GmbH. Diesen Anspruch konnte die Insolvenzschuldnerin aktivieren.
Fazit:
Ob die Haftung im qualifiziert faktischen Konzern Zukunft hat, bleibt abzuwarten. Der BGH hat diese Rechtsfigur nicht ohne Grund aufgegeben. Die Abgrenzungsschwierigkeiten zu dem „rechtmäßigen“ Handeln eines GmbH-Gesellschafters durch Anweisungen gegenüber dem Geschäftsführer gemäß § 37 GmbHG sind erheblich. Nach der gesetzlichen Konzeption des GmbH-Gesetzes werden Gläubiger der Gesellschaft „nur“ durch die Kapitalerhaltungsvorschriften gemäß §§ 30, 31 GmbHG geschätzt. Soweit das Stammkapital der Gesellschaft durch den Gesellschafter nicht abgezogen wird, kann der Gesellschafter grundsätzlich mit dem Vermögen der Gesellschaft verfahren wie er es für richtig hält. Einen Anspruch auf ein „angemessenes“ Eigenkapital besitzt der Rechtsverkehr im Verhältnis zu einer GmbH nicht.
Erheblich für die Rechtspraxis ist die Entscheidung gleichwohl. Sowohl Insolvenzverwalter als auch Geschäftsführer werden sich auf die Entscheidung berufen. Insolvenzverwalter werden versuchen, solvente Gesellschafter in Anspruch zu nehmen. Ein Geschäftsführer einer insolventen abhängigen Gesellschaft wiederum wird wegen einer qualifiziert faktischen Konzernierung einen Anspruch auf Verlustübernahme behaupten, wenn „sein“ Gesellschafter noch solvent genug ist. Empfehlenswert kann dies insbesondere für Fremdgeschäftsführer sein, wenn der (Allein-)Gesellschafter in das Tagesgeschäft hineinregiert sowie ein konzernweites Cash-Pooling-System eingeführt hat.
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