14.03.2022 -

Es ist eine Binsenweisheit, dass sich die Digitalisierung in keinem Lebensbereich aufhalten lässt und dass digitalisiert wird, was sich digitalisieren lässt. Die ärztliche Behandlung und die Art und Weise der Beratung macht davon keine Ausnahme und wird unter anderem unter dem Stichwort der Telemedizin seit langem fortentwickelt. Die Corona-Situation hat insbesondere der Nutzung von Videosprechstunden einen weiteren Vorschub geleistet. Daneben standen schon zuvor zahlreiche Startups im Gesundheitsbereich in den Startlöchern, die bestrebt sind, die Videosprechstunde als – jedenfalls bei bestimmten Erkrankungen –gleichwertige Alternative zum Gang in die Arztpraxis zu etablieren.


Urteil des BGH vom 09.12.2021 – I ZR 146/20 (Copyright: Rido/adobe.stock).

Die rechtliche Ausgangslage

Dieser Entwicklung stand lange Zeit die konservativen Regelungen in den Berufsordnungen der jeweiligen Ärztekammerbezirke entgegen, die die ausschließliche Fernbehandlung verboten. Die Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg war die erste, die eine vorsichtige Öffnung für Modellvorhaben vorsah. Im Rahmen des 121. Deutschen Ärztetages im Mai 2018 wurde beschlossen, dieses Fernbehandlungsverbot für die Fälle aufzuheben, in denen die Behandlung per Video ärztlich vertretbar ist, die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und der Patient über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird. Die für die Musterberufsordnung beschlossene Änderung wurde mittlerweile in die einzelnen Berufsordnungen der Ärztekammern übernommen.

Die damit einhergehende berufsrechtliche Erlaubnis für die Ärztinnen und Ärzte konnte schon aus Kompetenzgründen nicht regeln, ob und wie für diese Leistungen geworben werden darf. Dem stand das Werbeverbot im Heilmittelwerberecht verankerte Verbot der Werbung „für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung)“ entgegen.

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) hat dann der Bundesgesetzgeber diese Hürde wenn auch nicht aus dem Weg geräumt, so doch wesentlich herabgesetzt. Der entscheidende § 9 HWG wurde ergänzt und die

„Werbung für Fernbehandlung, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist“

erlaubt. 

Der Fall

Der Bundesgerichtshof hatte nun erstmals die Möglichkeit, sich mit der neuen Regelung auseinanderzusetzen und die Voraussetzung von § 9 Abs. 2 HWG zu konkretisieren.

Der Sachverhalt kann knapp zusammengefasst werden. Anlass gab ihm ein Unternehmen, welches den Kontakt zwischen Patient und in der Schweiz ansässigen Ärzten per App vermittelt welches in seiner Werbung darauf verwies, dass der Patient erstmals in Deutschland „Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App“ erhalte.

Die Entscheidung

Der BGH entschied, dass ein pauschaler Verweis auf „Behandlungen“ per App heilmittelwerberechtlich unzulässig sei. Die in § 9 Satz 2 HWG vorgegebenen Beschränkung auf Fernbehandlungen, bei denen nach allgemein anerkannten fachlichen Standard ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist, erfordere auch für die Zulässigkeit der Werbung eine Konkretisierung auf die Behandlungsfälle und -situationen, in denen diese Voraussetzung erfüllt sei.

Der fachliche Standard wiederum ergebe sich unter Rückgriff auf den entsprechenden Begriff gemäß § 630a Abs. 2 BGB und den dazu mit Blick auf die vom Arzt zu erfüllenden Pflichten aus einem medizinischen Behandlungsvertrag entwickelten Grundsätze und müsse durch die Gerichte gegebenenfalls durch Einholung eines Sachverständigengutachtens bestimmt werden. Dabei könnten Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften als auch die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß §§ 92, 136 SGB V Berücksichtigung finden. Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich, dass mit der Änderung in § 9 HWG der Weiterentwicklung telemedizinischer Möglichkeiten Rechnung getragen werden sollte und der Gesetzgeber von einem dynamischen Prozess ausgegangen sei, in dem sich mit dem Fortschritt der technischen Möglichkeiten auch der anerkannte fachliche Standard ändern könne.

Bewertung und Ausblick

In der Sache ist die Entscheidung konsequent und nachvollziehbar. Der Gesetzgeber hat die Werbung für Fernbehandlungen nicht an die technischen Möglichkeiten, sondern die medizinische Vertretbarkeit der Fernbehandlungen geknüpft.

Spannend bleibt aber die Frage, wann nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist, wie es § 9 HWG fordert. Der ausdrückliche Verweis in der Entscheidung auf den erforderlichen Rückgriff auf § 630a Abs. 2 BGB erlaubt einen Blick in die arzthaftungsrechtliche Rechtsprechung des BGH. Danach repräsentiert der medizinische Standard den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungszieles erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat. Dies lässt sich im Rahmen der üblichen Behandlung gut mithilfe eines Sachverständigen herausarbeiten. Neue Behandlungsmethoden werden entwickelt, als Neulandmethoden zunächst nur von wenigen Spezialisten durchgeführt, gehen irgendwann in die Breite der Ärzteschaft als Behandlungsalternative über und verdrängen aufgrund geringerer Risiken oder höherer Erfolgschancen ältere Behandlungsmethoden. Dies ist ein üblicherweise gut in der Wissenschaft und Lehrmeinung dokumentierter Prozess.

Es ist aber zweifelhaft, ob sich die Wissenschaft explizit mit der Frage beschäftigt, ob eine bestimmte Erkrankung auch ausschließlich über die Ferne behandelt werden kann. Der Standard wird sich daher eher über die Erfahrungen in der niedergelassenen Ärzteschaft entwickeln. Das wird Zeit in Anspruch nehmen. Für die Anbieter von Videoplattformen, die die Behandlung per App jetzt voranbringen wollen und dafür zwangsläufig auf Werbung angewiesen sind, ist diese Entscheidung zunächst ein Dämpfer und wird weitere gerichtliche Auseinandersetzungen erfordern, deren Ergebnis maßgeblich von den vom Gericht bestellten Sachverständigen abhängen wird.

Lorbeerkranz

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  • Top-Anwalt (Wolf Constantin Bartha) für Medizinrecht
    (WirtschaftsWoche 2023, 2022, 2021, 2020)

  • „Eine der besten Wirtschaftskanzleien für Gesundheit und Pharmazie„
    (brand eins Ausgabe 23/2022, 20/2021, 16/2020)

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