01.06.2022 -


Bei schwerbehinderten Menschen bedarf die Kündigung der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. (credit:adobestock)

Bei einem schwerbehinderten Menschen bedarf die Kündigung bekanntlich der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Wird die Zustimmung erteilt oder aber gilt sie im Wege der Fiktion als erteilt, kann der Arbeitgeber innerhalb der vorgegebenen Fristen die Kündigung aussprechen. Dem schwerbehinderten Menschen bleibt dann der Weg in das Widerspruchsverfahren und ggf. die Anfechtungsklage. Das Bundesarbeitsgericht hat nun klargestellt, dass die Aufhebung einer einmal erfolgten Zustimmung im Widerspruchsverfahren nicht ohne weiteres zur Unwirksamkeit der bereits ausgesprochenen Kündigung führt (BAG v. 22.7.2021, 2 AZR 193/21). Die Entscheidung ist von großer praktischer Bedeutung und ihre Kenntnis ist bei Rechtsstreiten mit schwerbehinderten Menschen besonders wichtig.

Der Fall:

Der Arbeitgeber kündigte der einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellten Klägerin am 10. September 2018 unter Berufung auf verhaltensbedingte Gründe außerordentlich fristlos sowie vorsorglich außerordentlich mit Auslauffrist zum 31. März 2019.

Der Zustimmungsantrag zu dieser Kündigung ging beim Integrationsamt am 23. August 2018 ein. Das Integrationsamt teilte dem Arbeitgeber am 7. September 2018 mit, dass wegen Fristablaufs nach § 174 Abs. 3 SGB IX die Zustimmung als erteilt gelte.

Die Klägerin legte trotz der ausgesprochenen Kündigung gegen die Zustimmung des Integrationsamtes zu den Kündigungen Widerspruch ein. Mit einem Abhilfebescheid vom 21. Februar 2019 hob das Integrationsamt den Bescheid vom 7. September 2018 auf und versagte die Zustimmung zu den Kündigungen. Hiergegen brachte die Beklagte eine Klage vor dem Verwaltungsgericht an. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht war diese Klage noch rechtshängig.

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Im Berufungsverfahren hat das Landesarbeitsgericht die Entscheidung des Arbeitsgerichts bestätigt.

Die Entscheidung:

Im Revisionsverfahren hat hingegen das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts aufgehoben und den Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen.

I. Zustimmungserfordernis auch bei Gleichgestellten

Die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses bedarf auch bei behinderten Menschen, die einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sind (vgl. § 2 Abs. 3 SGB IX) der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes, §§ 168, 174 Abs. 1 SGB IX. Auf gleichgestellte behinderte Menschen werden nach § 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen des Teils 3 des SGB IX (mit Ausnahme des § 208 SGB IX Zusatzurlaub) angewendet. Dazu zählen auch die Kündigungsschutzbestimmungen in Kapitel 4, also die §§ 168 – 175 SGB IX.

II. Bei Aufhebung Wirkungen nur nach Rechtskraft!

Die Tatsache, dass erst die Zustimmung erfolgte und dann auf den Widerspruch der Ausgangsbescheid aufgehoben wurde, ändert an der Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung (noch) nichts. Maßgeblich ist nur ein rechtskräftiger Abhilfebescheid.

Liegt eine Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung vor, haben die Arbeitsgerichte dies ihren Entscheidungen zugrunde zu legen. Dies gilt sowohl für ausdrückliche Entscheidungen des Integrationsamtes nach § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX als auch für die Zustimmungsfiktion des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX.

Die Gerichte aller Rechtszweige sind an die Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten, ihr Bestehen und ihren Inhalt gebunden. Dies gilt sogar dann, wenn sie rechtswidrig sind. Diese Tatbestandswirkung entfällt nur, wenn der Verwaltungsakt nichtig ist. Das war hier nicht der Fall. Gemäß § 171 Abs. 4 SGB IX haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamtes keine aufschiebende Wirkung. Das bedeutet, dass die durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung – vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit – solange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist. Für die Berechtigung des Arbeitgebers, auf der Grundlage des Zustimmungsbescheides die Kündigung zunächst zu erklären, ist es folglich ohne Bedeutung, ob die Zustimmung vom Widerspruchsausschuss oder einem Gericht aufgehoben wird, so lange die betreffende Entscheidung nicht bestands- bzw. rechtskräftig ist.

Hinweis für die Praxis:

Wird die Zustimmungsentscheidung daher erst nach rechtskräftiger Abweisung der Kündigungsschutzklage bestands- oder rechtskräftig aufgehoben, stellt sich die Frage, wie dann der Arbeitnehmer seine Rechte noch durchsetzen kann. Für diese spezielle Situation eröffnet die Zivilprozessordnung den Weg der sogenannten Restitutionsklage nach § 580 ZPO.

Fazit:

Ein Arbeitgeber darf sich also auf die einmal erteilte Zustimmung des Integrationsamtes auf diese berufen. Dies gilt bis zu einer entgegenstehenden Rechtskraft. Da gerade der Verwaltungsrechtsweg deutlich länger andauert als ein arbeitsgerichtliches Verfahren, eröffnet selbst ein Abhilfebescheid im Widerspruchsverfahren dem Arbeitnehmer zunächst keine zusätzlichen Rechte. Dies kann im Arbeitsgerichtsprozess zu einem taktischen Vorteil für die Arbeitgeberseite führen.

Lorbeerkranz

Auszeichnungen

  • TOP-Wirtschafts­kanzlei für Arbeits­recht
    (FOCUS SPEZIAL 2023, 2022, 2021, 2020)

  • TOP-Kanzlei für Arbeitsrecht
    (WirtschaftsWoche 2023, 2022, 2021, 2020)

  • TOP-Anwältin für Arbeitsrecht: Ebba Herfs-Röttgen
    (WirtschaftsWoche, 2023, 2022, 2021, 2020)

  • TOP-Anwalt für Arbeitsrecht: Prof. Dr. Nicolai Besgen
    (WirtschaftsWoche 2023, 2020)

Autor

Bild von Prof. Dr. Nicolai Besgen
Partner
Prof. Dr. Nicolai Besgen
  • Rechtsanwalt
  • Fachanwalt für Arbeitsrecht

UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME

Sprechblasen

UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME

Sind Sie unsicher, ob Sie mit Ihrer Angelegenheit bei uns richtig sind?
Nehmen Sie gerne unverbindlich Kontakt mit uns auf und schildern uns Ihr Anliegen.
Wir freuen uns auf Ihren Anruf.

Kontakt aufnehmen