Wir hatten bereits mehrfach über die neue Vorschrift des § 84 Abs. 2 SGB IX, die zum 1. Mai 2004 in Kraft getreten ist, berichtet. Gegenstand der Diskussion ist insbesondere die Frage, ob das in dieser Vorschrift vorgesehene betriebliche Eingliederungsmanagement für alle Arbeitnehmer gilt oder aber nur für behinderte bzw. schwer behinderte Menschen. Nach unserer Auffassung gilt nur ein eingeschränkter Geltungsbereich. Nun liegt allerdings ein erstes Urteil zu der Thematik vor und das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat den Anwendungsbereich der Vorschrift auf alle Arbeitnehmer erstreckt (LAG Niedersachsen, Urt. v. 29.03.2005 – 1 Sa 1429/04 -, AuA 2005, 433).
Der Sachverhalt der Entscheidung (verkürzt):
Der im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs 28-jährige nicht behinderte Mitarbeiter war bereits mehr als 10 Monate wegen einer Wirbelsäulenerkrankung arbeitsunfähig ausgefallen. Fragen des Arbeitgebers zu seiner weiteren gesundheitlichen Entwicklung wurden widersprüchlich ohne klare Aussage beantwortet. Der Arbeitgeber kündigt daraufhin das Arbeitsverhältnis ordentlich.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Kündigungsschutzklage abgewiesen.
Die Entscheidung des LAG:
I. Voraussetzungen einer krankheitsbedingten Kündigung
Eine krankheitsbedingte (personenbedingte) Kündigung ist wirksam, wenn erstens eine bezogen auf die Arbeitsunfähigkeit weitere negative Prognose für die Zukunft gestellt werden kann, zweitens durch die Krankheit betriebliche und/oder wirtschaftliche Auswirkungen zu verzeichnen sind und drittens das Arbeitsverhältnis auch nicht im Rahmen einer Interessenabwägung fortgeführt werden kann.
Vorliegend waren diese Voraussetzungen nach Ansicht der ersten und zweiten Instanz erfüllt. Zu Lasten des Mitarbeiters musste insbesondere berücksichtigt werden, dass dieser auf Anfrage des Arbeitgebers zum einen mitteilte, bei nicht leidensgerechter Umgestaltung seines Arbeitsplatzes werde er wieder arbeitsunfähig erkranken und zum anderen ausführte, er wollte den bisher ausgeübten Beruf als Dreher zukünftig nicht mehr ausüben. Dazu sei er körperlich nicht mehr in der Lage.
II. Betriebliches Wiedereingliederungsmanagement
Bei dem gekündigten Arbeitnehmer handelte es sich um einen nicht schwer behinderten Mitarbeiter. Das SGB IX fand damit für ihn keine Anwendung. Die Kündigung erfolgte auch bereits im Jahre 2003, so dass sich die Frage, ob sich die zum 1. Mai 2004 geänderte Vorschrift des § 84 Abs. 2 SGB IX auch auf nicht schwer behinderte Arbeitnehmer erstreckt, nicht beantwortet werden musste. Dennoch führte die Kammer des LAG zum betrieblichen Eingliederungsmanagement folgendes aus: Die Neuregelung gelte nicht nur für Schwerbehinderte, sondern für alle Arbeitnehmer im Betrieb. Der Mitarbeiter hätte sich deshalb nach Auffassung der Kammer grundsätzlich auch als Nichtbehinderter auf § 84 Abs. 2 SGB IX berufen können. Der Arbeitgeber wäre dann in dieser Konstellation zu Maßnahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements vor Kündigungsausspruch verpflichtet gewesen. Bei Unterlassen eines solchen Eingliederungsmanagements wäre die Kündigung unwirksam gewesen.
Hinweis für die Praxis:
Die Vorschrift des § 84 Abs. 2 SGB IX schreibt bei Mitarbeitern, die länger als sechs Wochen im Jahr arbeitsunfähig erkrankt sind, ein betriebliches Eingliederungsmanagement vor. Folgt man der Auffassung des LAG Niedersachsen, gilt dieses Eingliederungsmanagement für alle Arbeitnehmer im Betrieb, unabhängig von einer Behinderung und/oder Schwerbehinderung. Wird das betriebliche Wiedereingliederungsmanagement unterlassen, hat dies zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen. Insbesondere handelt es sich nicht um eine Ordnungswidrigkeit.
Aber: Vor Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung muss das Eingliederungsmanagement zwingend durchgeführt werden. Wir empfehlen daher, künftig dieses Eingliederungsmanagement vorsorglich auch bei nicht behinderten Personen durchzuführen. Andernfalls besteht die erhebliche Gefahr, dass die Kündigung schon wegen des unterlassenen Eingliederungsmanagements für unwirksam erklärt wird.
Verfasser: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Nicolai Besgen
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