22.01.2006 -

Betriebsbedingte Kündigungen müssen nach § 1 Abs. 1 KSchG sozial gerechtfertigt sein. Dabei sind insbesondere die Kriterien der Sozialauswahl zu beachten. Dazu gehört auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit. In einem praxisrelevanten Urteil hatte nun das BAG die Frage zu beantworten, ob eine Vereinbarung über die Dauer der Betriebszugehörigkeit zulässig ist (BAG, Urt. v. 02.06.2005 – 2 AZR 480/04 -). Die Frage stellt sich insbesondere dann, wenn sich durch eine solche Vereinbarung Auswirkungen auf andere Arbeitnehmer ergeben.

Der Sachverhalt der Entscheidung (verkürzt):

Der beklagte Arbeitgeber ist eine gemeinnützige Gesellschaft für Beschäftigungsförderung. Er führt u.a. Berufsbildungsmaßnahmen durch und veranstaltet von der Arbeitsverwaltung geförderte Ausbildungen in den Bereichen „Bürokaufleute“, „Groß- und Außenhandelskaufmann“ und „Speditionskaufmann“.

Der klagende Arbeitnehmer ist gelernter Bürokaufmann und seit dem 15. August 1995 bei dem Arbeitgeber als Ausbilder neben zwei weiteren Ausbildern tätig. Der Arbeitgeber errechnete für die Zukunft einen Bedarf von nur noch zwei statt der bisher drei Ausbilder und beschloss daher, das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers fristgerecht zu kündigen.

Gegen diese Kündigung erhob der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage, die er u.a. mit einer fehlerhaften Sozialauswahl begründete. Vor ihm hätte einer der anderen beiden nicht entlassenen Ausbilder gekündigt werden müssen, da dieser erst seit August 2000 beschäftigt sei. Die vertraglich mit diesem anderen Arbeitnehmer vereinbarte Beschäftigungszeit seit 1990 dürfe hingegen nicht berücksichtigt werden. Es sei auch irrelevant, dass diese Beschäftigungszeit in einem früheren Arbeitsgerichtsprozess durch Vergleich vereinbart wurde. Es handele sich insoweit um einen unzulässigen Vertrag zu Lasten Dritter.

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie hingegen auf die Berufung des Arbeitgebers abgewiesen.

Die Entscheidung:

Das Bundesarbeitsgericht hat die Entscheidung des LAG in der Revision bestätigt, also die Kündigung für wirksam erachtet. 

I. Regelungen über die Sozialauswahl nicht dispositiv

Die Regelungen über die Sozialauswahl sind nicht dispositiv. Sie können deshalb grundsätzlich einzelvertraglich nicht gezielt verändert werden. Dies gilt sowohl zu Ungunsten als auch zu Gunsten bestimmter Arbeitnehmer.

II. Gestaltung der Arbeitsbedingungen hingegen möglich

Die Regelung des § 1 Abs. 3 KSchG über die Sozialauswahl steht allerdings mittelbaren Verschlechterungen der kündigungsrechtlichen Position eines Arbeitnehmers nicht entgegen, die sich aus einer zulässigen Gestaltung der Arbeitsbedingungen ergeben. Es ist deshalb möglich, an sich nicht anrechnungsfähige frühere Beschäftigungszeiten bei einem anderen Unternehmen auf die Betriebszugehörigkeitsdauer durch einzelvertragliche Vereinbarung anzurechnen.

Aber: Die sich zu Lasten anderer zu kündigender Arbeitnehmer auswirkende Individualvereinbarung darf jedoch nicht rechtsmissbräuchlich eingesetzt werden. Die Vereinbarung darf deshalb nicht allein die Umgehung der Sozialauswahl bezwecken.

III. Sachlicher Grund erforderlich!

Das Bundesarbeitsgericht fordert daher für eine Anrechnung früherer Beschäftigungszeiten grundsätzlich einen sachlichen Grund. Für eine Umgehungsabsicht spricht nach Auffassung des BAG der zeitliche Zusammenhang zwischen der Individualvereinbarung und dem Kündigungsereignis. In solchen Fällen muss deshalb der kündigungsberechtigte Arbeitgeber den möglichen sachlichen Grund für den Inhalt der Individualvereinbarung näher darlegen.

Im vorliegenden Fall war ein solcher sachlicher Grund ohne weiteres gegeben. Die Anerkennung der Betriebszugehörigkeit beruhte nicht nur auf einem Prozessvergleich, was allein schon entscheidend für das Vorliegen eines sachlichen Grundes spricht. Hinzu kam, dass der Prozessvergleich vor dem Hintergrund eines streitigen Betriebsübergangs geschlossen worden war. Hätte nämlich tatsächlich ein Betriebsübergang stattgefunden, wäre die frühere Betriebszugehörigkeit auf jeden Fall von dem beklagten Arbeitgeber zu berücksichtigen gewesen (§ 613 a BGB).

Hinweis für die Praxis:

Beschäftigungszeiten bei einem anderen Unternehmen können einzelvertraglich angerechnet werden. Besteht für eine solche Vereinbarung ein sachlicher Grund, hat dies Auswirkungen auf die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG. Ein sachlicher Grund liegt insbesondere bei einem Prozessvergleich vor. Dieser wird jedoch die Ausnahme sein. Ob ein sachlicher Grund auch dann von dem BAG angenommen wird, wenn lediglich im Rahmen der Vertragsverhandlungen zugunsten des Arbeitnehmers frühere Beschäftigungszeiten angerechnet werden, ohne dass ein konkreter sachlicher Grund besteht, ist fraglich. Wir halten solche Vereinbarungen ebenfalls für zulässig, solange sie nicht in engem zeitlichen Zusammenhang mit einem Kündigungsereignis stehen und allein eine Umgehung der Sozialauswahl bezwecken.

Verfasser:  Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Nicolai Besgen, Bonn

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