Erkrankten Arbeitnehmern kann die Rückkehr in das Erwerbsleben mit der so genannten stufenweisen Wiedereingliederung ermöglicht werden („Hamburger Modell“). Arbeitsrechtlich bedürfen solcher Maßnahmen wegen der vom Arbeitsvertrag abweichenden Beschäftigung grundsätzlich der Zustimmung des Arbeitgebers. Entgeltansprüche entstehen nicht. Das Bundesarbeitsgericht hat nun in einem aktuellen Urteil klargestellt, dass dieses Prinzip der Freiwilligkeit nicht für das Behindertenrecht gilt (BAG, Urt. v. 13.06.2006 – 9 AZR 229/05 -). Im Schwerbehindertenrecht schließt vielmehr die Unfähigkeit zur Erbringung der vertraglich geschuldeten Arbeit einen Beschäftigungsanspruch im Rahmen einer Wiedereingliederung nicht aus.
Der Sachverhalt der Entscheidung (verkürzt):
Der 1950 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit 1980 als Chef de Rang angestellt. Das Restaurant gehört zu den „Top 100″ in Deutschland und ist unter anderem mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. Eine zum Restaurant gehörende Empore und das so genannte Wappenzimmer sind nur über 21 Stufen zu erreichen.
Der Kläger ist Juli 2002 arbeitsunfähig erkrankt. Nach einer stationären Rehabilitationsmaßnahme wurde er als arbeitsunfähig entlassen. Gleichzeitig wurde eine stufenweise Wiederaufnahme der Tätigkeit empfohlen. Eine erste Wiedereingliederungsmaßnahme wurde abgebrochen. Einzelheiten sind zwischen den Parteien streitig.
Wegen vielfältiger, vorrangig orthopädischer Beeinträchtigung wurde dem Kläger zum 1. Januar 2003 ein Grad der Behinderung von 8 % mit dem Merkzeichen G (Gehbehindert) zuerkannt. Am 5. Dezember 2003 bescheinigte der behandelnde Facharzt für Orthopädie dem Kläger auf dem Vordruck der Krankenkasse „Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung in das Erwerbsleben (Wiedereingliederungsplan)“:
„Durch eine stufenweise Wiederaufnahme seiner Tätigkeit kann der o.g. Versicherte schonend wieder in das Erwerbsleben eingegliedert werden. Nach meiner ärztlichen Beurteilung empfehle ich mit Einverständnis des Versicherten und nach dessen Rücksprache mit dem Arbeitgeber folgenden Ablauf für die stufenweise Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit:
1. Vom 1. Januar 2004 bis 31. Januar 2005 drei Stunden täglich an drei Tagen/die Woche.
2. Vom 1. Februar 2005 bis 29. Februar 2005 drei Stunden täglich an vier Tagen/Woche.
3. Vom 1. März 2005 bis 31. März 2005 drei Stunden täglich an fünf Tagen/Woche.“
Die auf der Bescheinigung unter der Überschrift „Zeitpunkt der Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit absehbar?“ vorgedruckten Rubriken „Ja, ggf. wann“ und „zurzeit nicht absehbar“ waren nicht ausgefüllt.
Der Arbeitgeber lehnte eine Teilnahme an der Wiedereingliederungsmaßnahme ab. Der Arbeitnehmer hat im Klageverfahren die Verurteilung zur stufenweisen Wiedereingliederung entsprechend der ärztlichen Empfehlung beantragt.
Das Arbeitsgericht hat dem Antrag stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten nach Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen.
Die Entscheidung des BAG:
Das Bundesarbeitsgericht hat im Revisionsverfahren zwar die ablehnende Entscheidung des LAG bestätigt. Dennoch hat es wichtige Ausführungen zum Anspruch eines Schwerbehinderten auf stufenweise Wiedereingliederung gemacht, die in der Regel einen solchen Anspruch bestehen lassen.
I. Grundsatz: Kein Anspruch auf stufenweise Wiedereingliederung
Der Anspruch auf arbeitsvertragliche Beschäftigung entfällt, wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt nicht seine volle, vertraglich vereinbarte Arbeitsleistung erbringen kann. Eine Teilarbeitsunfähigkeit ist dem geltenden Arbeits- und Sozialrecht unbekannt. Der Arbeitgeber ist deshalb nicht verpflichtet, eine nur eingeschränkt angebotene Arbeitsleistung anzunehmen.
Andererseits ist anerkannt, dass ein arbeitsunfähiger Arbeitnehmer trotz seiner Erkrankung oft in der Lage ist, unter geänderten Arbeitsbedingungen tätig zu sein und eine allmähliche Steigerung der beruflichen Belastung die Rückkehr des Arbeitnehmers in das aktive Erwerbsleben im Interesse beider Arbeitsvertragsparteien erleichtern kann. Krankenkassen (§ 74 SGB V) und die sonstigen Sozialversicherungsträger (§ 28 SGB IX) fördern deshalb die so genannte stufenweise Wiedereingliederung des Arbeitnehmers in das Erwerbsleben; in der Praxis auch unter „Hamburger Modell“ bekannt. Während der beruflichen Rehabilitation erhält der weiterhin arbeitsunfähige Arbeitnehmer die ihm sozialrechtlich zustehenden Leistungen. Arbeitsrechtlich bedarf die Maßnahme wegen der vom Arbeitsvertrag abweichenden Beschäftigung grundsätzlich der Zustimmung des Arbeitgebers. Entgeltansprüche entstehen nicht.
II. Schwerbehinderte haben Anspruch auf Wiedereingliederung!
Im Schwerbehindertenrecht schließt hingegen die Unfähigkeit zur Erbringung der vertraglich geschuldeten Arbeit einen Beschäftigungsanspruch, auch im Rahmen einer Wiedereingliederung und sogar bezogen auf eine anderweitige Tätigkeit nicht aus.
Dies folgt aus § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX. Die Rechte der Schwerbehinderten sind nach dieser Vorschrift vielfältig. Kann der Schwerbehinderte wegen Art oder Schwere seiner Behinderung die vertraglich geschuldete Arbeit nicht oder nur noch teilweise leisten, so hat er Anspruch auf entsprechende Vertragsänderung. Dieser Anspruch entsteht nach der Rechtsprechung des BAG unmittelbar bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen und bedarf (anders als im TzBfG) keiner ausdrücklichen Zustimmung des Arbeitgebers. Dies gilt auch für den Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit. Dem schwerbehinderten Menschen soll eine Betätigung ermöglicht werden, auch wenn sie hinter den vertraglichen Festlegungen quantitativ und/oder qualitativ zurückbleiben.
Das Prinzip der Freiwilligkeit gilt insoweit nicht. Das SGB IX will der Ausgrenzung des behinderten Menschen aus dem Arbeitsleben entgegenwirken und deren Teilhabe stärken. Das ist ohne Mitwirkung des Arbeitgebers nicht zu erreichen.
Daraus wird deutlich: Schwerbehinderte können einen Anspruch auf stufenweise Wiedereingliederung unmittelbar ohne Zustimmung des Arbeitgebers durchsetzen.
Hinweis für die Praxis:
Der Arbeitnehmer ist allerdings für den Anspruch auf Beschäftigung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX darlegungs- und beweisbelastet. Er muss deshalb bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung spätestens vor dem Landesarbeitsgericht eine ärztliche Bescheinigung seines behandelnden Arztes vorlegen. Aus dieser Bescheinigung müssen sich Art und Weise der empfohlenen Beschäftigung, Beschäftigungsbeschränkungen, Umfang der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit sowie die Dauer der Maßnahme ergeben. Schließlich muss sie eine Prognose enthalten, wann „voraussichtlich“ die Wiederaufnahme der Tätigkeit erfolgt. Denn: Gefördert werden soll die bessere Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Dies setzt freilich nicht voraus, dass die letzte Stufe im Sinne einer vollen Wiedererlangung der Befähigung erreicht werden muss.
Fazit:
Im vorliegenden Fall waren eigentlich alle Voraussetzungen eines Anspruchs auf stufenweise Wiedereingliederung erfüllt. Allerdings war die ärztliche Bescheinigung fehlerhaft. Die in dem vorgenannten Praxishinweis genannten Voraussetzungen wurden nicht eingehalten. Nur aus diesem Grunde wurde die Klage abgewiesen. Arbeitgeber müssen sich darauf einstellen, dass schwerbehinderte Menschen im Rahmen von § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX vielfältige Rechte einseitig durchsetzen können. Das Prinzip der Freiwilligkeit gilt im Schwerbehindertenrecht nicht.
Verfasser: Dr. Nicolai Besgen, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht in Bonn
Auszeichnungen
-
TOP-Wirtschaftskanzlei für Arbeitsrecht(FOCUS SPEZIAL 2024, 2023, 2022, 2021, 2020)
-
TOP-Kanzlei für Arbeitsrecht(WirtschaftsWoche 2023, 2022, 2021, 2020)
-
TOP-Anwältin für Arbeitsrecht: Ebba Herfs-Röttgen(WirtschaftsWoche, 2023, 2022, 2021, 2020)
-
TOP-Anwalt für Arbeitsrecht: Prof. Dr. Nicolai Besgen(WirtschaftsWoche 2023, 2020)
UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME
UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME
Sind Sie unsicher, ob Sie mit Ihrer Angelegenheit bei uns richtig sind?
Nehmen Sie gerne unverbindlich Kontakt mit uns auf und schildern uns Ihr Anliegen.
Wir freuen uns auf Ihren Anruf.