Das Schwerbehindertenrecht sieht in § 84 Abs. 1 SGB IX ein besonderes Präventionsverfahren vor. In der Praxis ist dieses Präventionsverfahren oftmals unbekannt und wird deshalb auch nicht durchgeführt. Im Rahmen eines Kündigungsrechtsstreits mit einem Schwerbehinderten stellte sich die Frage, ob es sich bei der Durchführung des Präventionsverfahrens um eine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen handelt. Das BAG hat dies nun in einem Grundsatzurteil verneint (BAG, Urt. v. 07.12.2006 – 2 AZR 182/06 -). Dennoch hat das BAG klargestellt, dass die Missachtung der Vorschrift nicht in jedem Fall folgenlos bleibt. Die Kenntnis des Urteils ist daher im Zusammenhang mit Kündigungen Schwerbehinderter relevant.
Der Sachverhalt der Entscheidung:
Der klagende Arbeitnehmer war seit 1993 bei dem beklagten Arbeitgeber als Arbeiter, zuletzt in der so genannten Schlacke-Aufbereitungsanlage einer Müllverbrennungsanlage, tätig. Er war mit 70 % schwerbehindert und hatte das Merkzeichen G, also erheblich gehbehindert.
Bei dem Arbeitgeber werden Zutritt und Verlassen des Betriebsgeländes mittels eines elektronischen Anwesenheitskontrollsystems erfasst. Das System dient – nach Absprache mit dem Personalrat – nicht der Auswertung der Anwesenheitszeiten der Mitarbeiter. Die Arbeitszeit wird vielmehr über Stundennachweisbögen erfasst, die der Vorarbeiter ausfüllt und auch abzeichnet.
In der Zeit vom 4. bis 13. November 2003 war der Kläger jeweils ca. zwei Stunden vor Schichtende nicht mehr als anwesend im Zugangskontrollsystem erfasst. Die vom Vorarbeiter abgezeichneten Stundennachweise wiesen hingegen für den Kläger jeweils die volle Arbeitszeit aus.
Der Arbeitgeber leitete daraufhin das personalvertretungsrechtliche Anhörungsverfahren ein und kündigte schließlich, nach Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens, das Arbeitsverhältnis unter Verdoppelung der längsten tariflichen Kündigungsfrist ordentlich aus verhaltensbedingten Gründen.
Der Arbeitnehmer bestritt die Pflichtverletzung. Auch die Daten des Zugangskontrollsystems könnten nicht genutzt werden, weil eine solche Auswertung mit dem Personalrat nicht abgesprochen gewesen sei. Schließlich sei die Kündigung unwirksam, weil der Arbeitgeber kein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX durchgeführt habe.
Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie in der Berufung hingegen abgewiesen.
Die Entscheidung des BAG:
Das BAG hat die Entscheidung des LAG bestätigt.
I. Ausgangslage
Das BAG hat zunächst die Wertungen des LAG hinsichtlich des Ausspruchs der verhaltensbedingten Kündigung im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG bestätigt. Der Arbeitnehmer hatte nachweisbar einen Arbeitszeitbetrug begangen. Dies rechtfertigte die verhaltensbedingte Kündigung. Eine Abmahnung war nicht erforderlich.
Insbesondere waren auch die Daten aus dem Anwesenheitskontrollsystem nicht deshalb unverwertbar, weil die Auswertung Mitbestimmungsrechte des Personalrats verletzen würde. Der Personalrat hatte der Verwendung im Rahmen des Anhörungsverfahrens ausdrücklich zugestimmt. Damit lag kein eigenständiges Beweisverwertungsverbot vor.
II. Präventionsverfahren als formelle Wirksamkeitsvoraussetzung?
Bei dem Präventionsverfahren nach § 87 Abs. 1 SGB IX handelt es sich nicht um ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB. Die Durchführung des Präventionsverfahrens ist damit auch keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung mit der Folge, dass eine Kündigung grundsätzlich nach § 84 Abs. 1 SGB IX unwirksam wäre, wenn ein Präventionsverfahren vor ihrem Ausspruch nicht durchgeführt worden ist.
Richtig ist zwar, dass die Regelung in § 84 Abs. 1 SGB IX sich an Arbeitgeber richtet, die schwerbehinderte Mitarbeiter beschäftigen. Durch den Ausbau der betrieblichen Prävention soll die Entstehung von Schwierigkeiten bei der Beschäftigung Schwerbehinderter möglichst verhindert bzw. diese sollen jedenfalls möglichst frühzeitig behoben werden. Aus diesem Grund handelt es sich auch nicht nur um eine reine Ordnungsvorschrift mit bloßem Appellcharakter, deren Missachtung in jedem Fall folgenlos wäre. Es ist deshalb davon auszugehen, dass § 84 Abs. 1 SGB IX eine Konkretisierung des dem gesamten Kündigungsschutzrechts inne wohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darstellt. Eine Kündigung ist danach nur erforderlich (ultima-ratio), wenn sie nicht durch mildere Maßnahmen zu vermeiden ist.
Aber: Im Umkehrschluss steht das Unterbleiben des Präventionsverfahrens einer Kündigung dann nicht entgegen, wenn die Kündigung auch durch das Präventionsverfahren nicht hätte verhindert werden können.
Hinweis für die Praxis:
Besondere Beachtung findet ferner, dass die Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen ohnehin nur dann zulässig ist, wenn das Integrationsamt nach § 85 SGB IX seine Zustimmung erteilt hat. Das Verfahren vor dem Integrationsamt nach §§ 85 ff. SGB IX stellt ein geordnetes Verfahren zur Prüfung der Rechte des schwerbehinderten Arbeitnehmers dar, dessen Entscheidung in mehreren Instanzen nachgeprüft werden kann. Das Integrationsamt hat hierbei die Interessen des Schwerbehinderten und die betrieblichen Interessen gegeneinander abzuwägen. Nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte kann deshalb davon ausgegangen werden, dass nach erfolgter Zustimmung ein Präventionsverahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX die Kündigung noch hätte verhindern können.
Fazit:
Arbeitgebern ist die Einleitung eines sinnlosen Präventationsverfahrens nicht zuzumuten. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um schwerwiegende verhaltensbedingte Verfehlungen – wie im vorliegenden Fall – handelt, bei denen nicht einmal der Ausspruch einer vorherigen Abmahnung nötig ist. In solchen Fällen besteht keinerlei Zusammenhang zwischen dem Ausspruch der Kündigung und einer etwaigen Schwerbehinderung. Ein Präventionsverfahren ginge in diesen Fällen regelmäßig ins Leere.
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