28.11.2007 -

Das Europarecht verbietet die Diskriminierung unter anderem wegen einer Behinderung in Beschäftigung und Beruf (Rahmenrichtlinie 2000/78/G vom 27.11.2000, dort Art. 1). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der geltende besondere Kündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX, der den Schwerbehinderten erst nach Ablauf von 6 Monaten schützt, europarechtskonform ist. Unter Berücksichtigung der Rahmenrichtlinie 2000/78/G ist die weitere Frage aufgeworfen, ob die Durchführung des Präventionsverfahrens und/oder des betrieblichen Eingliederungsmanagements nach dem § 84 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX auch im nicht kündigungsgeschützten Arbeitsverhältnis, also vor Ablauf von 6 Monaten, durchzuführen ist.

Das Bundesarbeitsgericht hat sowohl den geltenden besonderen Kündigungsschutz nach den §§ 85 ff. SGB IX wie auch das Unterbleiben eines Präventionsverfahrens oder betriebliche Eingliederungsmanagements in den ersten  6 Monaten des Arbeitsverhältnisses als europarechtskonform angesehen.

Der Fall:

Der klagende Arbeitnehmer war zum 1. März 2004 als Arbeiter bei einem Verkehrsbetrieb beschäftigt. Zunächst wurde das Arbeitsverhältnis als Probebeschäftigung für 2 Monate befristet. Das Arbeitsverhältnis bestimmte sich nach dem Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungsbetriebe und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der jeweils geltenden Fassung. Das Probearbeitsverhältnis wurde sodann verlängert.

Nach einem Arbeitsunfall wurde festgestellt, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers größer waren als sie ärztlicherseits zunächst vor Arbeitsbeginn festgestellt worden waren. Im Hinblick auf diese weitergehenden gesundheitlichen Einschränkungen konnte der Arbeitgeber den klagenden Arbeitnehmer nicht mehr beschäftigen und kündigte deshalb das Arbeitsverhältnis ordentlich fristgerecht. Dabei stützte es sich auf ein Kündigungsrecht, das nach dem in Bezug genommenen Tarifvertrag für befristete Arbeitsverhältnisses als vereinbart galt.

Nach Ansicht des BAG durfte sich der Arbeitgeber auf diese tarifliche Regelung stützen, auch wenn deren Inhalt für den Arbeitnehmer nicht auf Anhieb erkennbar war. Ein Verstoß gegen das Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 BGB ließ sich hieraus nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht ableiten, da die Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff. (AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht) BGB keine Anwendung auf Tarifverträge findet. Hintergrund hierfür ist, dass der Gesetzgeber unterstellt, Tarifbestimmungen seien angesichts der gegenläufigen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber insgesamt ausgeglichen. Den Gerichten ist deshalb die Prüfung entzogen, ob eine Tarifregelung insgesamt zweckmäßig, billig und bei Einzelfall die gerechteste Lösung ist. Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass der Ausschluss jeglicher Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff. BGB auch dann gelte, wenn der Tarifvertrag nur aufgrund arbeitgeberseitiger Tarifbindung und im Übrigen einzelvertraglicher Bezugnahme gelte. Andernfalls – so das Gericht weiter – käme es in einer solchen Fallkonstellation dazu, das die tariflichen Bestimmungen bei beidseitiger Tarifbindung keine Transparenzkontrolle unterliegen, wohl aber bei fehlender Tarifbindung der Arbeitnehmerseite. Je nach  Ergebnis der Überprüfung könnten hier für beiderseits tarifgebundene Vertragsparteien von einer Rechtswirksamkeit der tariflichen Bestimmungen ausgegangen werden, während bei nur einseitiger Tarifbindung die Tarifbestimmung ggf. als rechtsunwirksam anzusehen seien.

Die in dem zu entscheidenden Fall weiter streitige Frage, ob die noch in den ersten 6 Monaten des Arbeitsverhältnisses ausgesprochene Kündigung treuwidrig sei, verneinte das BAG ebenfalls. Außerhalb des allgemeinen Kündigungsschutzes könne nämlich eine Kündigung nur gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn Gründe vorlägen, die von § 1 KSchG nicht erfasst seien. Eine Rechtsunwirksamkeit einer noch in den ersten 6 Monaten erklärten Kündigung können deshalb nicht darauf gestützt werden, es bestünden noch andere zumutbare Beschäftigungen. Dies sei schließlich ein Einwand, der im allgemeinen Kündigungsschutz maßgeblich sei. Der Arbeitgeber konnte hier nach Auffassung des BAG auf einen einleuchtenden Grund für die Kündigung verweisen, da er den Kläger nicht mehr vertragsgemäß beschäftigen konnte. Dass der Arbeitsgeber die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers bei Einstellung kannte, führt zu keiner anderen Bewertung. Schließlich bleibe es dem Arbeitgeber unbenommen, innerhalb der Wartezeit die Einsatzmöglichkeiten des Klägers zu prüfen und ihn zu erproben. Dass in dem zu entscheidenden Fall weder ein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX noch ein betriebliches Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX durchgeführt worden war, konnte die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung ebenso wenig begründen. Denn bei unterbliebenen Präventionsmaßnahmen ist nicht die formelle Wirksamkeit der Kündigung betroffen, sondern im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu prüfen, ob die Kündigung zu rechtfertigen ist. Da der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die Rechtswirksamkeit einer Kündigung aber erst im Kündigungsschutz maßgeblich ist, kann es auf die Durchführung des Präventionsverfahrens/ Eingliederungsmanagements in den ersten 6 Monaten des Arbeitsverhältnisses nicht ankommen.

Fazit:

Das BAG hat erstaunlich klar votiert, dass im Falle der Kündigung eines Schwerbehinderten während der ersten 6 Monate des Arbeitsverhältnisses auch über das europarechtliche Diskriminierungsverbot von Behinderten ein vorgelagerter allgemeiner Kündigungsschutz nicht anzunehmen ist. Weder der Einwand einer anderweitigen zumutbaren Beschäftigung noch der eines unterbliebenen Präventionsverfahrens/Eingliederungsmanagements kann die Kündigung eines schwerbehinderten in der Wartezeit zu Fall bringen.

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