15.11.2023 -

Genesungswidriges Verhalten während bestehender Arbeitsunfähigkeit: Fristlose Kündigung?

Arbeitnehmer dürfen sich bei einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit nicht genesungswidrig verhalten. Sie müssen also alles tun, um den Heilungsverlauf nicht zu gefährden oder zu verlangsamen.
Der bloße Verdacht, dass sich der Arbeitnehmer während der Arbeitsunfähigkeit genesungswidrig verhält, darf nicht dazu genutzt werden, diesen heimlich zu überwachen oder sogar zu filmen (credits:adobestock).

Arbeitnehmer dürfen sich bei einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit nicht genesungswidrig verhalten. Sie müssen also alles tun, um den Heilungsverlauf nicht zu gefährden oder zu verlangsamen. In der Praxis kommt es immer wieder zu Streit über die Frage, ob bestimmte private Tätigkeiten während einer attestierten Arbeitsunfähigkeit in diesem Sinne heilungswidrig sind und Sanktionen des Arbeitnehmers bis hin zur fristlosen Kündigung rechtfertigen. Das Landesarbeitsgericht Nürnberg hat in einer aktuellen Entscheidung zwar eine Pflichtverletzung wegen genesungswidrigem Verhalten bejaht, gleichwohl aber die Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung verneint (LAG Nürnberg v. 29.11.2022, 1 Sa 250/22). Die Entscheidung ist insoweit von besonderer Bedeutung, weil der Arbeitgeber sogar eine Detektei zur Aufklärung eingesetzt hat. Die Erkenntnisse der Detektei durften wegen erheblichem Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers nicht verwertet werden.

Der Fall:

Der klagende Arbeitnehmer ist bereits seit 1990 bei dem beklagten Arbeitgeber als Betontechnologe beschäftigt. Zuletzt hatte er ein Bruttomonatsentgelt von durchschnittlich 3.620,00 €. Der Kläger ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt und genießt damit den Sonderkündigungsschutz nach dem SGB IX.

Seit dem 1.11.2020 ist er nahezu durchgängig arbeitsunfähig erkrankt.

Am 28.9.2021 und 29.9.2021 ließ der Arbeitgeber den Arbeitnehmer bei Tätigkeiten auf seinem Hausgrundstück von einer Detektivagentur beobachten und durch ein Loch in der Hecke mit einer Kamera aufzeichnen. Im Anschluss beantragte der Arbeitgeber fristgerecht die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung beim Inklusionsamt. Nach erfolgter Zustimmung wurde das Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt.

Der Arbeitgeber hat im Prozess vorgetragen, der Arbeitnehmer habe während der ihm attestierten Arbeitsunfähigkeit schwere körperliche Arbeiten verrichtet. Damit habe er sich gesundheitsschädlich verhalten und auch seine Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht. So habe er an beiden Tagen über mehrere Stunden handwerkliche Tätigkeiten verrichtet, überwiegend in gebückter Haltung, Gegenstände getragen, Schaufelarbeiten durchgeführt und sogar einen Zwei-Takt-Stampfer bedient.

Der Arbeitnehmer hat die Vorwürfe bestritten. Er sei im Juli 2021 an der rechten Schulter operiert worden. Er habe lediglich im privaten Umfeld mit Unterstützung seines Sohnes und eines Nachbarn den Versuch unternommen, die Belastungsfähigkeit der Schulter zu testen. Ohnehin könnten die Erkenntnisse der Detektei nicht verwertet werden, da die heimlichen Filmaufnahmen sein Persönlichkeitsrecht verletzt haben.

Das Arbeitsgericht hat die Kündigung für unwirksam erachtet.

Die Entscheidung:

Im Berufungsverfahren hat das Landesarbeitsgericht die Entscheidung des Arbeitsgerichts bestätigt. Auf Antrag des Arbeitnehmers wurde dann das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufgelöst.

I. Verwertungsverbot der heimlichen Überwachung

Die Gerichte haben hier zunächst ein Beweisverwertungsverbot angenommen. Arbeitgeber sind nicht berechtigt, Arbeitnehmer „ins Blaue hinein“ oder wegen des bloßen Verdachts von Verstößen einer heimlichen Überwachung zu unterziehen. Dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Voraussetzung für eine zulässige Überwachung wäre ein konkreter und plausibler Verdacht. Arbeitnehmer dürfen aber nicht „einfach nur so“ heimlich gefilmt und überwacht werden. Im vorliegenden Fall handelt es sich sogar um einen erheblichen Eingriff nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts, da der Kläger heimlich durch ein Loch in der Hecke beobachtet und gefilmt wurde. Ein solcher Eingriff kann allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn konkrete Verdachtsmomente für eine schwere Pflichtverletzung vorgelegen hätten. Dies war aber nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts, dazu sogleich, hier nicht der Fall.

Hinweis für die Praxis:

Diese Rechtsprechung ist sehr ernst zu nehmen. Ein bloßer allgemeiner Verdacht darf nicht dazu genutzt werden, Arbeitnehmer heimlich zu überwachen oder sogar zu filmen. Dies ist nur zulässig, wenn konkrete Verdachtsmomente vorliegen, die auch nachgewiesen werden können. Wird dennoch überwacht und werden sogar diese Erkenntnisse in einem Prozess eingebracht, kann dies zu Entschädigungsansprüchen des betroffenen Arbeitnehmers wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts führen. Die Gerichte haben solche Ansprüche bereits zugesprochen.

II. Genesungswidriges Verhalten?

Das Gericht hat hier allerdings tatsächlich eine sogar erhebliche Pflichtverletzung des Arbeitnehmers bejaht. So hat er trotz einer Schulterverletzung einen Bodenstampfer bedient. Diese Bedienung erfolgte zwar nur für einen geringen Zeitraum, es versteht sich aber von selbst, dass ein solcher Rüttler erhebliche Schwingungen verursacht. Das Gericht hat klargestellt, dass man sich keine ungeeigneteren Tätigkeiten vorstellen kann, wenn eine Arbeitsunfähigkeit auf einer operierten Schulter beruht.

Aber: Es handelte sich hierbei nicht um eine so schwerwiegende Pflichtverletzung, dass die fristlose Kündigung im konkreten Fall gerechtfertigt war. Der Arbeitnehmer konnte auf eine mehr als 30-jährige Betriebszugehörigkeit verweisen und war zum Kündigungszeitpunkt bereits 56 Jahre alt. Zudem bestand der besondere Schutz nach dem SGB IX für gleichgestellte Menschen. Weiter war der Arbeitnehmer auch schon seit langer Zeit aus dem Entgeltfortzahlungszeitraum herausgefallen, so dass finanzielle Nachteile nicht für den Arbeitgeber bestanden haben. Schließlich hat das Landesarbeitsgericht den milderen Ausspruch einer Abmahnung gefordert.

Fazit:

Wegen des hohen sozialen Besitzstandes ist die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts hier nachvollziehbar. Allerdings bleibt ein gewisser Widerspruch in der Begründung. So hat das Landesarbeitsgericht einerseits die Überwachung und die hieraus gewonnenen Erkenntnisse für unzulässig erachtet und ein Beweisverwertungsverbot angenommen. Gleichzeitig wurde aber auch eine „erhebliche Pflichtverletzung“ bejaht. In der Rechtsprechung ist es aber anerkannt, dass bei erheblichen Pflichtverletzungen Überwachungsmaßnahmen gerechtfertigt sind. Letztlich kam es aber darauf nicht an, da das Gericht insgesamt die Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung verneint hat. Lediglich der von dem Arbeitnehmer gestellte Auflösungsantrag wurde dann anerkannt, da die Zusammenarbeit zwischen den Parteien nicht mehr zumutbar war. Im Ergebnis zeigt diese Rechtsprechung, dass eine fristlose Kündigung bei genesungswidrigem Verhalten nur in klaren und krassen Fällen sicher ist. Gerade bei einer langen Betriebszugehörigkeit und einem hohen sozialen Besitzstand fordern die Gerichte regelmäßig eine vorhergehende Abmahnung.

Autor: Prof. Dr. Nicolai Besgen

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