12.04.2023
Bei krankheitsbedingten Kündigungen sollte stets kontrolliert werden, ob für die Wirksamkeit der Kündigung zuvor ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt werden muss.
Bei krankheitsbedingten Kündigungen sollte stets kontrolliert werden, ob für die Wirksamkeit der Kündigung zuvor ein bEM durchgeführt werden muss (credits:adobestock).

Ein betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) muss bekanntlich immer dann durchgeführt werden, wenn der Arbeitnehmer innerhalb von 12 Monaten sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war oder ist. In der Praxis stellt sich dabei immer wieder die Frage, wie mit dauererkrankten Arbeitnehmern umzugehen ist, die ein bEM entweder tatsächlich durchgeführt oder aber abgelehnt haben und weiter arbeitsunfähig bleiben. Muss dann der Arbeitgeber nach einer neuerlichen Krankheitszeit von sechs Wochen wieder ein neues bEM anbieten oder kann er darauf verzichten? Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg hat diese Pflicht in einem aktuellen Urteil bejaht (LAG Baden-Württemberg v. 10.2.2022, 17 Sa 57/21). Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts liegt auf einer Linie mit der aktuellen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und vieler weiterer Landesarbeitsgerichte (BAG v. 18.11.2021, 2 AZR 138/21). Krankheitsbedingte Kündigungen sind daher, man muss es so deutlich sagen, nur noch dann wirksam, wenn das letzte bEM nicht länger als sechs Wochen bei dauererkrankten Arbeitnehmern zurückliegt! Wir möchten die wichtige Rechtsprechung hier für die Praxis darstellen.

Der Fall:

Die Arbeitnehmerin ist eine Versicherungssachbearbeiterin in Teilzeit mit 20 Wochenstunden. Die Bruttomonatsvergütung lag zuletzt bei 2.105,75 €. Sie ist bei dem beklagten Arbeitgeber bereits seit 1. Januar 1999 beschäftigt. Sie ist als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Im Unternehmen besteht ein Betriebsrat. Eine Schwerbehindertenvertretung ist gebildet.

Die Klägerin ist bereits seit dem 12. Dezember 2014 durchgehend bis zum 27. Mai 2020 arbeitsunfähig gewesen. Nach Aufforderung des Arbeitgebers stellte sich die Arbeitnehmerin am 21. Februar 2019 beim Betriebsarzt vor. In der Folge fand im Mai 2019 ein Präventionsgespräch statt, an dem auch Mitarbeiterinnen des Integrationsamtes teilnahmen.

Der Arbeitgeber lud die Mitarbeiterin zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement ein. Die Mitarbeiterin willigte grundsätzlich ein, teilte aber mit, dass sie die übermittelte datenschutzrechtliche Einwilligung nicht unterzeichnen wolle.

Sie wurde daraufhin zu einem Gespräch eingeladen. In dem Gespräch wurde der Mitarbeiterin erläutert, dass ohne Unterschrift unter die Datenschutzerklärung ein bEM-Verfahren nicht durchgeführt werden könne. Die Mitarbeiterin weigerte sich weiter. Das bEM-Verfahren wurde dann nicht fortgesetzt. Ein weiteres bEM wurde ebenfalls nicht angeboten.

Im Dezember 2019 beantragte der Arbeitgeber die Zustimmung des Integrationsamtes zur beabsichtigten ordentlichen personenbedingten (krankheitsbedingten) Kündigung. Im Rahmen des Verfahrens vor dem Integrationsamt wurde eine Stellungnahme der behandelnden Ärztin eingeholt. Eine positive Prognose konnte aus der Stellungahme nicht abgeleitet werden.

Das Integrationsamt erteilte die Zustimmung zur Kündigung. Mit Schreiben vom 26. Mai 2020 kündigte der Arbeitgeber daraufhin ordentlich das Arbeitsverhältnis mit der Arbeitnehmerin zum 31. Dezember 2020.

Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage abgewiesen.

Die Entscheidung:

Im Berufungsverfahren hat hingegen das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben.

I. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten

Bei einer krankheitsbedingten (personenbedingten) Kündigung muss neben der negativen Prognose stets auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt bzw. geprüft werden. Eine auf Gründe in der Person des Arbeitsnehmers gestützte Kündigung ist immer dann unverhältnismäßig, wenn sie zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung nicht geeignet oder nicht erforderlich ist. Eine Kündigung ist dabei durch Krankheit nicht im Sinne von § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG „bedingt“, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Solche Maßnahmen können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereiches oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen – seinem Gesundheitszustand entsprechenden – Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus kann sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, es dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung zu ermöglichen, ggf. spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch künftige Fehlzeiten auszuschließen oder zumindest signifikant zu verringern.

Hinweis für die Praxis:

Ist der Arbeitgeber in diesem Zusammenhang verpflichtet, ein betriebliches Eingliederungsmanagement nach § 167 Abs. 2 SGB IX durchzuführen, ist er im vollem Umfange darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

II. Wiederholung eines bereits durchgeführten bEM notwendig?

Im vorliegenden Fall bestand dazu die Besonderheit, dass der Arbeitgeber tatsächlich ein bEM bereits angeboten hatte. Die Arbeitnehmerin hatte dieses bEM faktisch durch ihre Weigerung, die Datenschutzerklärung zu unterzeichnen, abgelehnt. Im Anschluss hatte dann der Arbeitgeber nach Durchführung des Integrationsamtsverfahrens und der erteilten Zustimmung die Kündigung ausgesprochen. Allerdings lagen zwischen dem abgelehnten bEM und dem Ausspruch der Kündigung erneut (deutlich) mehr als sechs Wochen. Das Landesarbeitsgericht bejaht daher in Übereinstimmung mit der aktuellen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Pflicht des Arbeitgebers, ein erneutes bEM anzubieten. Wenn nämlich innerhalb des der Kündigung vorausgegangenen Jahres erneut Fehlzeiten von mehr als sechs Wochen aufgetreten sind, seit der Beendigung des letzten bEM aber noch kein Jahr vergangen ist, besteht dennoch diese Pflicht. Mit anderen Worten: Es entsteht eine erneute Verpflichtung des Arbeitgebers, ein bEM zu initiieren, wenn die Arbeitsunfähigkeit über den Abschluss des vorherigen bEM hinaus ununterbrochen weitere mehr als sechs Wochen angedauert hat.

Hinweis für die Praxis:

Die Arbeitsgerichte gehen davon aus, dass sich bei einer ununterbrochen andauernden erneuten bzw. fortbestehenden Arbeitsunfähigkeit auch wieder neue Erkenntnismöglichkeiten für zielführende Präventionsmaßnahmen ergeben können. Diese Pflicht stelle für Arbeitgeber auch „keinen unzumutbaren bürokratischen Aufwand dar“.

III. Arbeitgeber muss das Gegenteil beweisen!

Im vorliegenden Fall hatte der Arbeitgeber sich auch damit verteidigt, die Arbeitnehmerin hätte sich auch bei einem erneuten bEM sicherlich geweigert, die Datenschutzerklärung zu unterzeichnen. Dazu wurde letztlich nur lapidar festgestellt, dass sich die in der Vergangenheit ablehnende Haltung der Arbeitnehmerin durchaus durch die neuen bzw. zusätzlich aufgetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten geändert haben könnte. Eine in der Vergangenheit ausgesprochene Weigerung muss nicht fortbestehen. Da der Arbeitgeber die objektive Nutzlosigkeit darlegen und beweisen muss, hat dieses Argument nicht ausgereicht.

IV. Zustimmung des Integrationsamtes ausreichend?

Das Landesarbeitsgericht hat weiter klargestellt, dass die Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung keine Vermutungswirkung beinhaltet, dass ein weiteres bEM eine Kündigung nicht hätte verhindern können. Für eine solche Vermutungswirkung bedarf es besonderer Anhaltspunkte. Aus der Zustimmung könne daher nicht abgeleitet werden, dass ein weiteres bEM objektiv nutzlos gewesen wäre.

Fazit:

Ein durchgeführtes betriebliches Eingliederungsmanagement verliert regelmäßig bereits dann seine Wirkung, wenn der Mitarbeiter andauernd oder wiederholt erneut weitere sechs Wochen erkrankt war. Soll eine krankheitsbedingte Kündigung ausgesprochen werden, bedarf es dann vor Ausspruch dieser Kündigung zwingend eines erneuten bEM-Verfahrens. Bei beabsichtigten krankheitsbedingten Kündigungen ist daher genau zu prüfen, ob das durchgeführte bEM noch aktuell ist. In Zweifelsfällen sollte man ein erneutes bEM anbieten. Dabei ist auf die Wirksamkeit des Angebotes ebenfalls besondere Sorgfalt zu verwenden. Wir hatten bereits an früherer Stelle mehrfach darauf hingewiesen, dass auch das Einladungsschreiben allen formalen Anforderungen entsprechen muss, da Fehler bei der Einladung auf die Wirksamkeit des bEM-Verfahrens durchschlagen. Nur wenn alle Anforderungen beachtet werden, können Rechtsnachteile vermieden werden.

Autor: Nicolai Besgen

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Prof. Dr. Nicolai Besgen
  • Rechtsanwalt
  • Fachanwalt für Arbeitsrecht

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