
Tarifverträge gelten entweder kraft beiderseitiger Mitgliedschaft in den tarifschließenden Organisationen oder aber kraft einzelvertraglicher Bezugnahme. Die Inhaltskontrolle für Arbeitsverträge nach den §§ 305 ff. BGB beinhaltet für Tarifverträge ein sogenanntes Kontrollprivileg, § 310 Abs. 4 BGB. Das Bundesarbeitsgericht hat nun wichtige Fragen zum Umfang der Inbezugnahme und zur Wirkung von Ausschlussfristen für die Praxis geklärt (BAG v. 29.1.2025, 4 AZR 83/24). Wir möchten die bedeutsame Entscheidung für die Praxis besprechen.
Der Fall:
Der Arbeitgeber ist Mitglied im Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen e.V. (Hessenmetall). Der klagende Arbeitnehmer war dort vom 1.4.2008 bis zum 31.12.2022 beschäftigt. In seinem Einstellungsvertrag heißt es u.a.:
„Wir beschäftigen Sie ab dem 1.4.2008 als Ausbildungsleiter Technische Ausbildung.
Ihr Brutto-Monatsgehalt beträgt 4.550,00 €.
Hieraus ergibt sich ein Jahresbruttogehalt i.d.H. von 60.000,00 €. Die Einstufung erfolgt außertariflich.
Mit der Zahlung des AT-Bruttogehaltes gelten alle Mehrarbeitsstunden als pauschal abgegolten.
Die Kündigungsfrist beträgt 3 Monate, jeweils zum Ende eines Quartals. Unabhängig hiervon endet das Arbeitsverhältnis, ohne dass es einer Kündigung bedarf, mit Ablauf des Monats, in dem Sie einen ungeminderten Rentenzugang haben.
An dieser Stelle machen wir Sie erneut darauf aufmerksam, dass alle Lohn- und Gehaltsangelegenheiten streng vertraulich zu behandeln sind. Sämtliche weiteren Vertragsbestandteile, wie Urlaubsanspruch, Urlaubsgeld, Sonderzahlung etc. richten sich nach den tarifrechtlichen Bestimmungen des Manteltarifvertrages der Hessischen Metallindustrie.“
Der Arbeitgeber schloss im Zeitraum Februar 2019 bis Dezember 2021 mehrere firmenbezogene Sanierungstarifverträge. Diese sahen Stundungen der Entgeltansprüche und Kürzungen vor. Der nicht tarifgebundene Kläger weigerte sich, eine entsprechende Stundungsvereinbarung zu unterzeichnen. Der Arbeitgeber kürzte gleichwohl dessen Entgelt entsprechend den Regelungen der Sanierungsverträge in den Monaten Juni 2019 bis Mai 2021 um insgesamt 7.459,70 € brutto.
Im Zusammenhang mit der Kündigung seines Arbeitsverhältnisses machte der Kläger das einbehaltene Entgelt erstmals am 1.9.2022 geltend. Der Arbeitgeber lehnte die Rückzahlung ab und der Kläger reichte dann am 22.3.2023 Zahlungsklage ein.
Der Arbeitgeber berief sich auf die Ausschlussfrist in § 29 des Manteltarifvertrages für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen (MTV). Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Ausschlussfristenregelung sei nicht wirksam in Bezug genommen. Die vertragliche Verweisung sei unklar im Sinne von § 305c Abs. 2 BGB. Die für ihn günstigere Auslegung führe dazu, dass nur die tariflichen Bestimmungen zum Urlaub und zu Sonderzahlungen in Bezug genommen worden seien.
Das Arbeitsgericht hat der Zahlungsklage stattgegeben. Im Berufungsverfahren hat das Landesarbeitsgericht hingegen die Klage insgesamt abgewiesen.
Die Entscheidung:
Im Revisionsverfahren hat das Bundesarbeit das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
I. Keine vertragliche Bezugnahme der Sanierungstarifverträge.
Zunächst hat das BAG klargestellt, dass der Einstellungsvertrag in Abs. 6 S. 2 nur auf den MTV verweist. Damit wird schon nicht das gesamte Tarifwerk der betreffenden Branche in Bezug genommen. Die zusätzlich abgeschlossenen Sanierungstarifverträge fanden daher keine Anwendung und das Entgelt durfte nicht einbehalten werden.
II. Umfang der Bezugnahme?
Der Arbeitnehmer hatte hier die Auffassung vertreten, die Vereinbarung im Arbeitsvertrag sei unklar, da ausdrücklich nur Regelungen zu Urlaub und zu Sonderzahlungen genannt sind. Das BAG hat dazu klargestellt, dass die Bestimmungen des jeweiligen MTV umfassend in Bezug genommen wurden. Damit war auch die Ausschlussfristenregelung des MTV erfasst. Die vertragliche Formulierung „sämtliche weiteren Vertragsbestandteile“ bringt erkennbar zum Ausdruck, dass im Arbeitsverhältnis die Bestimmungen des MTV zur Anwendung kommen sollen, soweit der Arbeitsvertrag keine abweichende Regelung enthält. Unter „sämtliche“ ist „alle“, „ausnahmslos“ und „in seiner Gesamtheit“ zu verstehen. Mit der anschließenden Aufzählung zu Urlaub und Sonderzahlungen ist keine Einschränkung oder Konkretisierung der Bezugnahme allein auf diese Vertragsbestandteile verbunden. Die Aufzählung ist erkennbar nur beispielhaft und gerade nicht abschließend.
Hinweis für die Praxis:
Die Bezugnahmeklausel ist damit wirksam im Vertrag einbezogen worden. Dies war auch nicht nach sonstigen Maßstäben überraschend im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB oder intransparent nach § 307 Abs. 1 BGB.
III. Kontrollprivileg?
Das Landesarbeitsgericht hat jedoch in seinem Berufungsurteil angenommen, die in Bezug genommenen tariflichen Regelungen seien wegen des Kontrollprivileges nach § 310 Abs. 4 BGB nicht Inhalt einer AGB-Kontrolle. Richtig ist, dass nach § 310 Abs. 4 S. 1 BGB die Vorschriften der § 305 ff. BGB auf Tarifverträge keine Anwendung finden. Diese sind von einer AGB-Kontrolle ausgenommen. Aber: Das Kontrollprivileg setzt die Inbezugnahme der Gesamtheit der Regelungen des einschlägigen Tarifvertrages vor. Wird nicht der gesamte Tarifvertrag in Bezug genommen, hat eine Inhaltskontrolle zu erfolgen. Die Ausnahme von der Inhaltskontrolle wird dadurch gerechtfertigt, dass nur für den gesamten Tarifvertrag die Vermutung der Angemessenheit besteht. Wird nicht der gesamte Tarifvertrag in Bezug genommen werden die divergierenden Interessen nicht angemessen ausgeglichen.
Danach genügt eine lediglich punktuelle Vereinbarung tariflicher Bestimmungen nicht.
Hinweis für die Praxis:
Die Inbezugnahme des gesamten Tarifwerkes ist hingegen nicht erforderlich. Unter Tarifwerk versteht man insoweit die Gesamtheit der für die Branche geltenden Tarifverträge, also nicht nur ein einzelner Tarifvertrag, sondern auch alle weiteren Tarifverträge. Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag ist daher für das Kontrollprivileg ausreichend. Im vorliegenden Fall hatte aber das Landesarbeitsgericht genau diese Frage nicht abschließend geprüft, ob also jedenfalls vollständig auf den MTV verwiesen worden ist. Im Arbeitsvertrag waren neben dem ergänzenden Verweis auch typische Regelungen, die sonst im MTV gewesen wären, enthalten. Insoweit muss das Landesarbeitsgericht jetzt nochmals abschließend prüfen, ob es sich dabei um abweichende oder nur deklaratorische Regelungen handelte. Zu prüfen wäre auch, ob es sich bei den vertraglichen Regelungen um günstigere Regelungen handelte.
Fazit:
Der Rechtsstreit wurde zwar nicht abschließend entschieden, dennoch enthält die Entscheidung wichtige Hinweise zur Vertragsgestaltung, wenn das Kontrollprivileg des § 310 Abs. 4 BGB Anwendung finden soll. Voraussetzung ist jedenfalls die vollständige Inbezugnahme eines einschlägigen Tarifvertrages. Nicht erforderlich ist hingegen die Bezugnahme auf das gesamte Tarifwerk der einschlägigen Branche. Entfällt das Kontrollprivileg des § 310 Abs. 4 BGB findet eine Transparenzkontrolle statt. Diese hätte im vorliegenden Fall zur Unwirksamkeit der Ausschlussfristenregelung geführt. Bei der Formulierung von Verweisungsklauseln auf Tarifverträge ist daher genau zu prüfen, ob das Kontrollprivileg Anwendung finden soll. In diesem Fall darf es der klaren Verweisung auf den gesamten Tarifvertrag.
Autor: Prof. Dr. Nicolai Besgen
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