07.02.2024 -

Berechnung der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer bei Massenentlassungsanzeigen

Das BAG hatte hinsichtlich einer Massenentlassungsanzeige zu entscheiden, wie die erforderliche Betriebsstärke im Sinne der einzelnen in § 17 I KSchG genannten Schwellwerte zu berechnen ist.
Für die Berechnung der erforderlichen Betriebsstärke bei einer Massenentlassung ist auf diejenige bei gewöhnlichem Geschäftsgang abzustellen (credits: adobestock).

Arbeitgeber sind bekanntlich verpflichtet, bei Massenentlassungen eine Anzeige bei der Agentur für Arbeit zu erstatten. Die Einzelheiten ergeben sich aus den §§ 17 ff. KSchG. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist eine ohne erforderliche Massenentlassungsanzeige ausgesprochene Kündigung unwirksam.

Maßgeblich sind dabei für die Verpflichtung, eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten, die in § 17 Abs. 1 KSchG genannten Schwellenwerte. Das Bundesarbeitsgericht hatte nun zu entscheiden, wie die erforderliche Betriebsstärke im Sinne der einzelnen Schwellenwerte konkret zu berechnen ist, nämlich ob eine Stichtagsregelung zugrunde gelegt wird, die auf die Berechnung der konkreten Beschäftigtenzahl am Tag des Ausspruchs der Kündigung abstellt, oder ob auf die übliche Personalstärke im regelmäßigen Geschäftsgang abzustellen ist (BAG v. 11.5.2023, 6 AZR 157/22 (A)).

Der Fall:

In dem Rechtsstreit streitet der Insolvenzverwalter mit einem gekündigten Arbeitnehmer über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Der Arbeitnehmer war bereits seit 1994 bei der V Handelsgesellschaft mbH tätig. Bis September 2020 beschäftigte diese noch 25 Mitarbeiter. Ein Betriebsrat war nicht gebildet.

Über das Vermögen der Gesellschaft wurde am 1.12. 2020 das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt.

Die im Oktober 2020 noch bestehenden 22 Arbeitsverhältnisse wurden durch Kündigungen und Aufhebungsverträge beendet, die zwischen dem 12.11. 2020 und dem 29.12.2020 zugingen bzw. abgeschlossen wurden.

Das Arbeitsverhältnis des Klägers kündigte der Beklagte (Insolvenzverwalter) mit einem am 8.12.2020 zugegangenen Schreiben vom 2.12.2020 zum 31.3.2021. Eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG wurde nicht erstattet.

Der gekündigte Arbeitnehmer hat Kündigungsschutzklage u.a. mit dem Argument erhoben, die Kündigung sei schon deshalb unwirksam, weil es an der erforderlichen Massenentlassungsanzeige fehle. Der Insolvenzverwalter hat vorgetragen, es sei nicht von der regelmäßigen Personalstärke auszugehen, sondern im Falle der hier vorliegenden Betriebsstilllegung komme es im Sinne einer Stichtagesregelung auf die am Entlassungstag vorhandene Arbeitnehmeranzahl an. Zum Zeitpunkt der Kündigung seien nur noch 19 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen.

Die Entscheidung:

Das Bundesarbeitsgericht hat die Massenentlassungsanzeige für erforderlich angesehen und die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts damit bestätigt. Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht das Verfahren ausgesetzt bis über eine andere Rechtssache beim Europäischen Gerichtshof, ebenfalls zur Thematik der Massenentlassungsanzeige, entschieden ist.

I. Stichtagsregelung bei der Schwellenwertberechnung?

Für die Ermittlung der personellen Betriebsstärke ist die Regelanzahl der Beschäftigten maßgeblich. Dies ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut, wenn in § 17 Abs. 1 KSchG auf die „in der Regel“ im Betrieb Beschäftigten abgestellt wird. Hierbei handelt es sich nicht um die durchschnittliche Beschäftigtenzahl in einem bestimmten Zeitraum, sondern um die normale Beschäftigtenzahl des Betriebs, mithin diejenige Personalstärke, die für den Betrieb im Allgemeinen, also bei seinem regelmäßigen Gang, kennzeichnend ist.

Erforderlich dafür ist ein Rückblick auf die bisherige personelle Stärke des Betriebs und eine Einschätzung der zukünftigen Entwicklung, wobei Zeiten außergewöhnlich hohen oder niedrigen Geschäftsanfalls nicht zu berücksichtigen sind.

Damit ist für das Tatbestandsmerkmal „in der Regel“ nicht auf einen Stichtag, sondern auf die personelle Betriebsstärke bei gewöhnlichem Geschäftsgang abzustellen.

II. Besonderheiten bei Betriebsstilllegung

Bei einer Betriebsstilllegung kann eine Vorausschau nicht mehr stattfinden. Im Stilllegungsfall ist daher der Zeitpunkt maßgeblich, in dem zuletzt noch eine normale Betriebstätigkeit entfaltet wurde. Die durch die Entlassungen jeweils reduzierten Belegschaftsstärken können aufgrund der vorherigen Stilllegungsentscheidung nicht mehr kennzeichnend für die regelmäßige Beschäftigtenzahl sein. Sie sind nur noch Stufen der Auflösung des Betriebes.

Hinweis für die Praxis:

Etwas anderes gilt jedoch, wenn mehreren aufeinanderfolgenden Personalreduzierungsmaßnahmen kein einheitlicher Stilllegungsentschluss zugrunde liegt, sondern der endgültigen Stilllegung eine oder mehrere Betriebseinschränkungen vorausgingen. Wird der Betrieb zunächst mit entsprechend verminderter Belegschaftsstärke fortgeführt, wird diese zu der normalen, den Betrieb kennzeichnenden. Dafür ist kein bestimmter Mindestzeitraum erforderlich.

III. Keine Besonderheiten in der Insolvenz

Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch in der Insolvenz. Wird der Betrieb nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zeitnah stillgelegt, bestimmt sich die Betriebsgröße nach den betrieblichen Umständen, die vor der Eröffnung charakteristisch waren. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn der Insolvenzverwalter – anders als im vorliegenden Rechtsstreit – während eines langwierigen Insolvenzverfahrens unternehmerische Entscheidungen trifft, die Auswirkungen auf den gewöhnlichen Geschäftslauf und die hiermit im Zusammenhang stehende personelle Betriebsstärke haben.

Fazit:

Im vorliegenden Fall war der Schwellenwert nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG von in der Regel mehr als 20 beschäftigten Arbeitnehmern bei dem insolventen Unternehmen im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Kündigung (noch) überschritten. Es waren mindestens noch 21 Beschäftigte vorhanden. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht auch die kurzarbeitleistenden Arbeitnehmer berücksichtigt. Die Anordnung von Kurzarbeit bedeutet, dass von einem nur vorübergehenden Arbeitsmangel und nicht von einem dauerhaft gesunkenen Beschäftigungsbedarf auszugehen ist. Ein vorübergehender Arbeitsmangel ist aber noch kein Indiz für den Wegfall eines Arbeitsplatzes.

Das Verfahren wurde dennoch ausgesetzt. Der EuGH prüft aktuell, ob die unterlassene Massenentlassungsanzeige tatsächlich zur Unwirksamkeit von Kündigungen führt. Das Bundesarbeitsgericht wartet zunächst den Ausgang dieses klärenden Verfahrens beim EuGH ab, da bei fehlender Unwirksamkeit im vorliegenden Fall die fehlende Massenentlassungsanzeige die Kündigung nicht mehr berühren würde.


Autor: Prof. Dr. Nicolai Besgen

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