
Geplante Betriebsänderungen nach § 111 BetrVG verpflichten den Unternehmer zum Abschluss eines Interessenausgleichs und Sozialplans, §§ 111 ff. BetrVG. Die Sanktionen bei einem Verstoß gegen die Verhandlungspflicht über einen Sozialplan regelt dabei konkret die Vorschrift des § 113 BetrVG (sogenannter Nachteilsausgleichsanspruch).
In der Praxis kommt es immer wieder zu Fallkonstellationen, in denen sich der Unternehmer aus wirtschaftlichen und aus zeitlichen Gründen gezwungen sieht, die Betriebsänderung bereits vor Abschluss eines Interessenausgleichs und Sozialplans zu beginnen. Vor allem in diesen Fällen streiten dann die Betriebspartner über die wichtige Frage, ob dem Betriebsrat ein Unterlassungsanspruch im Wege des einstweiligen Verfügungsverfahrens zusteht, um vorzeitige Maßnahmen zur Umsetzung der Betriebsänderung ohne Abschluss eines Interessenausgleichs im Sozialplan zu verhindern. Diese Frage ist in Literatur und Rechtsprechung bis heute umstritten. Das Arbeitsgericht Erfurt hat nun in einem aktuellen Beschluss einen solchen Einspruch abgelehnt (ArbG Erfurt v. 19.2.2024, 6 BVGa 1/24).
Der Fall:
Der beteiligte Arbeitgeber fertigt Etiketten für verschiedene Firmen, im Wesentlichen in den Bereichen Home & Beauty. Das Unternehmen ist Teil eines europäischen Konzerns mit insgesamt 29 Firmen in mehreren europäischen Ländern und einem Umsatzvolumen von mehr als 1 Milliarde Euro jährlich. Bei dem beteiligten Unternehmen sind 212 Arbeitnehmer beschäftigt.
Das Unternehmen beliefert vor allem internationale Großkunden. Hierzu werden Rahmenverträge zwischen den Kunden und der Unternehmensgruppe direkt abgeschlossen. In den Rahmenverträgen sind mehrere Betriebe als Lieferanten vereinbart.
Am 14.12.2023 wurde der beteiligte Betriebsrat ordnungsgemäß über die Planung einer Betriebsänderung schriftlich über die Absicht der Stilllegung des Betriebes im Laufe des dritten Quartals 2024 informiert. Das Schreiben enthielt eine Präsentation und in mehreren Anlagen wurde im Einzelnen die geplante Schließung erläutert und ein Schließungsplan vorgelegt. Des Weiteren waren dem Schreiben der Entwurf eines Interessenausgleichs und der Entwurf eines Sozialplans sowie der Entwurf einer Vereinbarung über eine Einigungsstelle beigefügt. Alle Unterlagen waren mit konkreten Daten und Fristen versehen. So war der Abschluss der Verhandlungen zum Interessenausgleich und Sozialplan bis zum 28.3.2024 geplant. Die Produktion sollte spätestens im Juni 2024 gestoppt werden. Eine Veräußerung des Standortes sei spätestens im September 2024 geplant.
Der Betriebsrat hat im Januar beim Arbeitsgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung eingereicht. Der Antrag hatte das Ziel, bis zum Abschluss der Verhandlungen über einen Interessenausgleich u.a. die Vergabe bereits erteilter Aufträge an andere Firmen sowie die Weitergabe von Druckdaten zu untersagen.
Steht dem Betriebsrat ein Unterlassungsanspruch zu?
Der Betriebsrat hat dabei die Auffassung vertreten, ihm stehe ein Unterlassungsanspruch zu. Der Arbeitgeber versuche bereits vollendete Tatsachen zu schaffen, die eine Einflussnahme des Betriebsrates auf zukünftige Maßnahmen verhindere. Damit werde dem Betriebsrat die Möglichkeit genommen, durch eigene Vorschläge auf die Betriebsänderung noch Einfluss nehmen zu können. Dieser Anspruch auf Verhandlung müsse daher im Wege einer Unterlassungsverfügung gesichert werden. Nur ein Anspruch auf Unterlassung sichere die Rechte aus §§ 111 ff. BetrVG. Nur mit der Unterlassungsverfügung könne der Betriebsrat seine Aufgaben wahrnehmen. Für einen wirksamen einstweiligen Rechtsschutz spreche zu dem auch die EG-Richtlinie 2002/14/EG. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie verlange, dass es geeignete Verfahren geben müsse, mit deren Hilfe die Erfüllung der vorgesehenen Verpflichtungen durchgesetzt werden könnten. Der Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG werde diesen Anforderungen nicht gerecht.
Die Entscheidung:
Das Arbeitsgericht hat bereits einen Verfügungsanspruch des Betriebsrats abgelehnt.
I. Umstrittene Rechtslage
Zunächst hat das Arbeitsgericht klargestellt, dass die Rechtslage umstritten ist und eine gesetzliche Grundlage fehlt. Prozessual kann eine einstweilige Verfügung in erster Instanz beim zuständigen Arbeitsgericht eingereicht werden. Die Entscheidung des Arbeitsgerichts kann dann noch zweitinstanzlich vor dem jeweils zuständigen Landesarbeitsgericht überprüft werden. Allerdings ist eine Rechtsbeschwerde bzw. Revision zum Bundesarbeitsgericht prozessual nicht vorgesehen. Daher kann sich das Bundesarbeitsgericht mit dieser Frage nicht befassen und es fehlt eine für alle Landesarbeitsgerichte einheitliche Vorgabe und Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Dies hat zur Folge, dass die Landesarbeitsgerichte in Deutschland unterschiedlich zu der Beantwortung der streitigen Rechtsfrage stehen. Aus diesem Grund kommt es auch immer wieder zu neueren Entscheidungen zu der Thematik und ggf. auch örtlich zu Rechtsprechungsänderungen.
Hinweis für die Praxis:
Der Praxis kann daher zunächst in Fällen, in denen eine Betriebsänderung ansteht und zeitlich Handlungsdruck entsteht nur empfohlen werden, sich konkret mit der örtlichen Rechtsprechung vertraut zu machen und sich hierauf einzustellen.
II. Kein Unterlassungsanspruch des Betriebsrats
Das Arbeitsgericht hat seine ablehnende Entscheidung vor allem auf die fehlende gesetzliche Regelung gestützt. Die Vorschrift des § 111 BetrVG regelt einen Unterrichtungs- und Beratungsanspruch des Betriebsrates. Die Rechtsfolge der Verletzung der Unterrichtungs- und Beratungsrechte des Betriebsrates ist in den § 113 BetrVG (Nachteilsausgleichsanspruch der betroffenen Arbeitnehmer) und § 121 BetrVG (bußgeldpflichtige Ordnungswidrigkeit bei Verstoß gegen die Pflichten aus § 111 BetrVG) geregelt. Weitere gesetzliche Regelungen existieren aber nicht.
Das Arbeitsgericht hat weiter ausgeführt, dass nicht jede Verletzung von Rechten des Betriebsrates ohne weiteres zu einem Unterlassungsanspruch führt. Es gibt keine erzwingbare Mitbestimmung im Bereich des § 111 BetrVG. Der Spruch der Einigungsstelle gemäß § 112 Abs. 4 S. 2 BetrVG ersetzt auch nur die fehlende Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat über einen Sozialplan, nicht aber jene über einen Interessenausgleich.
Auch die Umstände der nur Novellierung des BetrVG im Jahre 2001 sprechen gegen einen Unterlassungsanspruch. Im damaligen Gesetzgebungsverfahren wurde nämlich die Frage des Unterlassungsanspruchs von mehreren Abgeordneten diskutiert und in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Am Ende wurde jedoch nach Diskussion und Beratung im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ein solches Recht des Betriebsrates abgelehnt. Dem Gesetzgeber war also die Thematik bewusst und er hat dennoch von einer gesetzlichen Regelung Abstand genommen. Damit ist auch nicht von einer gesetzgeberischen Lücke auszugehen. Schließlich verlangt auch die EG-Richtlinie 2002/14/EG keine abweichende Beurteilung. Die dort geforderten „angemessenen Sanktionen“ sind durch § 113 BetrVG und die Ahndung als Ordnungswidrigkeit gemäß § 121 BetrVG ohne Weiteres gewährleistet.
III. Noch keine vollendeten Tatsachen
Schließlich hat das Arbeitsgericht auch deshalb einen Anspruch abgelehnt, weil der Unternehmer im hier vorliegenden Fall noch keine konkrete Umsetzung der beabsichtigten Schließung vorgenommen hat. Die von dem Betriebsrat dargelegten Maßnahmen reichen noch nicht aus.
Der Unternehmer beginnt mit der Durchführung einer Betriebsänderung, wenn er unumkehrbare Maßnahmen ergreift und damit vollendete Tatsachen schafft. Eine Betriebsänderung in Form der Stilllegung besteht in der Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation für unbestimmte, nicht nur vorrübergehende Zeit. Ihre Umsetzung erfolgt sobald der Unternehmer unumkehrbare Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergreift. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er die bestehenden Arbeitsverhältnisse zum Zwecke der Betriebsstilllegung kündigt.
Hinweis für die Praxis:
Die von dem Betriebsrat beschriebenen Maßnahmen stellen in diesem Sinne noch keine Auflösung der Betriebsorganisation dar. Sie sind auch nicht unumkehrbar und auch von dem Betriebsrat noch beeinflussbar, so das Gericht. Der Anspruch scheiterte daher auch aus diesen Gründen.
Fazit:
Die überwiegende Anzahl der Landesarbeitsgerichte lehnt einen Unterlassungsanspruch des Betriebsrates bei. Nicht jede Verletzung von Rechten des Betriebsrates führt daher ohne Weiteres zu einem Unterlassungsanspruch. Im Einzelfall ist dennoch genau zu prüfen, wie die Rechtslage im jeweiligen Bundesland aussieht. Im Sinne der vertrauensvollen Zusammenarbeit sollte ohnehin eine Konfrontation mit dem Betriebsrat und eine vorzeitige Umsetzung der Betriebsänderung vermieden werden.
Autor: Prof. Dr. Nicolai Besgen
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