08.11.2023 -

Anforderungen an eine Verdachtskündigung wegen fehlender Arbeitszeiterfassung

Das LAG Mecklenburg-Vorpommern hat in einer aktuellen Entscheidung eine ordentliche Verdachtskündigung wegen Arbeitszeitbetruges bejaht.
Werden Tat- und Verdachtskündigung gemeinsam erklärt, ist darauf zu achten, dass der Betriebsrat sowohl zur Tat- als auch zur Verdachtskündigung getrennt angehört wird (credits:adobestock).

Das Arbeitsrecht kennt, anders als das Strafrecht, auch die Möglichkeit der Verdachtskündigung. Im Strafrecht kann nur bei nachgewiesener Tat eine Verurteilung erfolgen (in dubio pro reo), im Arbeitsrecht kann hingegen auch der dringende Tatverdacht einer Pflichtverletzung eine Kündigung rechtfertigen. Die Voraussetzungen sind aber sehr hoch, um Arbeitnehmern nicht auf Basis von geringfügigen Verdachtsmomenten „einfach“ kündigen zu können. Das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern hat in einer aktuellen Entscheidung eine ordentliche Verdachtskündigung wegen Arbeitszeitbetruges bejaht (LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 28.3.2023, 5 Sa 128/22). Wir möchten die Entscheidung zum Anlass nehmen, die wesentlichen Grundsätze einer Verdachtskündigung hier nochmals zu besprechen und darzustellen.

Der Fall:

Der 40 Jahre alte Kläger ist bereits seit 2005 bei der beklagten Agentur für Arbeit tätig. Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach dem Manteltarifvertrag für die Angestellten der Bundesagentur für Arbeit (MTA).

Der Kläger wohnt zusammen mit seiner Lebensgefährtin, die ebenfalls bei der beklagten Agentur für Arbeit beschäftigt ist. Die Lebensgefährtin erbringt ihre Arbeitsleistung zum überwiegenden Teil rechnergestützt im Homeoffice. Der Kläger arbeitet grundsätzlich im Dienstgebäude des Jobcenters. Für mobiles Arbeiten benötigt er die Zustimmung seiner Führungskraft.

Der Kläger hatte ein Negativsaldo auf seinem Arbeitszeitkonto. Sein Vorgesetzter führte daher Anfang des Jahres 2020 ein Mitarbeitergespräch und vereinbarte den Ausgleich des Negativsaldos binnen eines bestimmten Zeitraums.

Das Terminal für die Zeiterfassung im Dienstgebäude befindet sich im Erdgeschoss des Haupteingangs in der Mitte des Gebäudes. Das Büro des Klägers befand sich im zweiten Obergeschoss in der Nähe des Gebäudemittelteils. Um sich vom Rechner aus im Zeiterfassungssystem anzumelden, ist die Personalnummer und ein spezielles Kennwort erforderlich. Das gilt unabhängig davon, ob sich der Arbeitnehmer im Homeoffice oder am Arbeitsplatz – PC im Dienstgebäude – anmeldet.

Nach der einschlägigen Dienstvereinbarung müssen alle Arbeitszeitunterbrechungen mittels Betätigung der „Kommen-“ und „Gehentaste“ am Zeiterfassungsgerät erfasst werden. Ebenso ist das Betreten und Verlassen des Dienstgebäudes ohne Betätigung des Zeiterfassungsgerätes oder ohne An- und Abmeldung nicht statthaft.

Der Teamleiterin des Klägers war aufgefallen, dass der Kläger trotz Vollbeschäftigung häufig später zur Arbeit erschien als sie, den Arbeitsplatz allerdings wiederum früher verließ. Sie prüfte daher nach Einschaltung der Personalvertretung seine Zeiterfassung. Dabei zeigte sich, dass sich der Kläger schon immer sehr früh gegen 6.30 Uhr online einbuchte, dann später online wieder ausbuchte und einige Minuten später über den Terminal im Jobcenter wieder einbuchte für die restliche Zeit seiner Anwesenheit. In einer gewissen Regelmäßigkeit hat er also die ersten beiden Zeitbuchungen des Arbeitstages online vorgenommen und die weiteren Buchungen des Tages dann persönlich am Terminal vorgenommen. Mobile Arbeit war für die jeweiligen Tage nicht gestattet.

Der Kläger wurde dann wegen seines auffälligen Buchungsverhaltens angehört. Er berief sich darauf, dass er immer mit dem Fahrrad zur Arbeit komme. Er ziehe sich dann erst in den Sanitärräumlichkeiten um und nehme dann in seinem Büro online die Zeiterfassungen vor.

Im Weiteren wurde der Kläger nochmals angehört. Er wurde mit dem Verdacht konfrontiert, sich von zu Hause aus über den Zugang eines Dritten eingebucht zu haben. Nach weiteren Anhörungen und Aufklärungsmaßnahmen wurde der Personalrat zur ordentlichen Verdachtskündigung zum nächst möglichen Termin angehört. Die Kündigung wurde dann im Februar 2022 fristgerecht zum 30. September 2022 ausgesprochen.

Der Kläger hat im Rahmen seiner Klage insbesondere die Auffassung vertreten, sein Arbeitgeber vermute lediglich einen Arbeitszeitbetrug, könne dies aber nicht belegen. Es sei zulässig, sich am Arbeitsplatzrechner online einzubuchen.

Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage abgewiesen und den Arbeitszeitbetrug bejaht.

Die Entscheidung:

Im Berufungsverfahren hat das Landesarbeitsgericht die Entscheidung des Arbeitsgerichts vollumfänglich bestätigt.

I. Grundsätze der Verdachtskündigung

Der Verdacht einer Pflichtverletzung stellt gegenüber dem verhaltensbezogenen Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Pflichtverletzung tatsächlich begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Der Verdacht kann eine ordentliche Kündigung aus Gründen in der Person des Arbeitnehmers rechtfertigen. So führt der schwerwiegende Verdacht einer Pflichtverletzung zum Verlust der vertragsnotwendigen Vertrauenswürdigkeit des Arbeitnehmers und damit zu einem Eignungsmangel. Dies macht einem verständigen Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar.

Nach der Rechtsprechung handelt es sich in diesen Fällen bei einer Verdachtskündigung um einen personenbedingten Kündigungsgrund.

Hinweis für die Praxis:

Eine Verdachtskündigung ist als ordentliche Kündigung regelmäßig sozial nur gerechtfertigt, wenn Tatsachen vorliegen, die zugleich eine außerordentliche, fristlose Kündigung gerechtfertigt hätten. Dies gilt zunächst für die Anforderungen an die Dringlichkeit des Verdachts als solchen. Der Verdacht muss auf konkreten, vom Kündigenden darzulegenden und ggf. zu beweisenden Tatsachen beruhen. Er muss ferner dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft.

II. Vorherige Anhörung zwingend!

Der Arbeitgeber muss vor Ausspruch einer Abmahnung alle zumutbaren Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts ergreifen. Dazu gehört es insbesondere, dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Verdachtsmomenten zu geben, um seine Einlassungen und die damit verbundenen Entlastungsmöglichkeiten bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers ist zwingend. Fehler bei der Anhörung oder gar eine unterlassene Anhörung führen unmittelbar zur Unwirksamkeit einer Verdachtskündigung.

Hinweis für die Praxis:

Bei der Anhörung des Arbeitnehmers sind zahlreiche Anforderungen zu beachten. Oftmals entziehen sich Arbeitnehmer bewusst der Anhörung, um dadurch Mängel im Kündigungsverfahren zu provozieren. Arbeitgeber sind daher gut beraten, sich bei der Anhörung und den nötigen Anforderungen genau zu vergewissern, dass alle Voraussetzungen erfüllt werden.

Fazit:

Die Verdachtskündigung ist eine von der Rechtsprechung anerkannte Kündigung. In Zweifelsfällen ist zu empfehlen, sowohl eine Tat- als auch eine Verdachtskündigung gleichzeitig auszusprechen. Kann die Pflichtverletzung nicht sicher nachgewiesen werden, verbleibt immer noch die Möglichkeit der Verdachtskündigung. Die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers ist dann aber zwingend. Zudem ist darauf zu achten, dass der Betriebsrat sowohl zur Tat- als auch zur Verdachtskündigung getrennt angehört wird bzw. jedenfalls die Differenzierung im Anhörungsschreiben an den Betriebsrat deutlich gemacht wird.

Autor: Prof. Dr. Nicolai Besgen

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