02.10.2025 -

BFH-Urteil vom 18.06.2025 (X R 19/21): Die amtliche Richtsatzsammlung in ihrer gegenwärtigen Form ist kein taugliches Instrument für eine Schätzung nach § 162 AO!

BFH-Urteil vom 18.06.2025 (X R 19/21): Schätzung bei offenen Ladenkassen, Grenzen der BMF-Richtsatzsammlung und Vorrang des inneren Betriebsvergleichs.
Relevantes Urteil für Steuerberater und Steueranwälte: Risiken von offenen Ladenkassen sowie Einschränkung des Ermessensspielraums von FA und FG bei der Auswahl von Schätzungsmethoden! (credits: adobestock)

Einleitung

Das am 25.09.2025 veröffentlichte Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 18. Juni 2025 (X R 19/21) befasst sich mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Kassenführung bei bargeldintensiven Betrieben und der Auswahl geeigneter Schätzungsmethoden durch Finanzverwaltung und Finanzgerichte. Der BFH entschied im Fall einer Hamburger Diskothek, dass die Nutzung der amtlichen Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) für Schätzungen gegenwärtig nicht möglich ist. Ein innerer Betriebsvergleich genießt regelmäßig Vorrang. Zudem äußerte der Senat erhebliche Zweifel an der statistischen Repräsentativität der Richtsatzsammlung. Für Steuerberater und Steueranwälte ist dieses Urteil wichtig, da es den Ermessensspielraum der Finanzverwaltung deutlich einschränkt.

1. Sachverhalt

Der Kläger betrieb in den Jahren 2013 und 2014 eine Diskothek in Hamburg und ermittelte seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich. Die Einnahmen wurden über bis zu fünf offene Ladenkassen erfasst, deren Tagesumsätze lediglich auf Zetteln dokumentiert und an die Buchhaltung übergeben wurden. Kasseneinzelaufzeichnungen lagen nicht vor.

Im Rahmen einer Außenprüfung stellte das Finanzamt (FA) schwerwiegende Mängel der Kassenführung fest. Der Prüfer führte eine Nachkalkulation anhand von Eingangsrechnungen und einer Getränkekarte durch und kam zu erheblichen Abweichungen zwischen erklärten und möglichen Umsätzen. Das FA nahm daraufhin Hinzuschätzungen sowohl bei den Getränkeerlösen als auch bei Eintritts- und Garderobenumsätzen vor. Die Einsprüche des Klägers blieben erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) Hamburg bestätigte zwar die Schätzungsbefugnis, lehnte aber die Schätzungsmethode des FA ab. Stattdessen griff es auf die amtliche Richtsatzsammlung für Gastronomiebetriebe zurück und setzte einen Rohgewinnaufschlagsatz von 300 % an. In der Folge reduzierte es die Hinzuschätzungen, ließ aber die Methode des äußeren Betriebsvergleichs bestehen.

Der Kläger wandte sich gegen die Anwendung der Richtsatzsammlung und argumentierte, diese sei statistisch nicht repräsentativ und für Diskotheken nicht anwendbar. Er hielt lediglich einen pauschalen Sicherheitszuschlag von 5 % für angemessen. Das FA und das BMF verteidigten die Richtsatzmethode als anerkanntes Instrument.

2. Entscheidungsgründe des BFH

a. Schätzungsbefugnis

Der BFH bestätigte, dass aufgrund der erheblichen Mängel der offenen Ladenkassen eine Schätzungsbefugnis bestand. Nach § 162 AO dürfen Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden, wenn Aufzeichnungen formell oder materiell fehlerhaft sind. Bei bargeldintensiven Betrieben können Kassenmängel die gesamte Buchführung entwerten.

Werden vorwiegend Bargeschäfte getätigt, können Mängel der Kassenführung der gesamten Buchführung die Ordnungsmäßigkeit nehmen.“

b. Vorrang des inneren Betriebsvergleichs

Der BFH stellte klar, dass das FA und die Gerichte zwar grundsätzlich frei in der Wahl ihrer Schätzungsmethoden sind, diese Freiheit aber durch pflichtgemäßes Ermessen (§ 5 AO) eingeschränkt ist. Schätzungsmethoden mit höherer Genauigkeit sind vorrangig anzuwenden.

In der Regel ist der innere Betriebsvergleich im Verhältnis zum äußeren Betriebsvergleich als die zuverlässigere Schätzungsmethode anzusehen.“

Im konkreten Fall hätte das FG prüfen müssen, ob eine Nachkalkulation auf Basis der Wareneinsätze und Rezepturen möglich gewesen wäre, anstatt sofort auf die Richtsatzsammlung zurückzugreifen.

c. Zweifel an der Richtsatzsammlung

Besondere Aufmerksamkeit widmete der BFH der Eignung der BMF-Richtsatzsammlung:

  • Die Richtsatzsammlung basiert auf Stichprobenerhebungen, deren Repräsentativität fraglich ist (Problem der sogenannten Stichprobenselektivität („selection bias“)).
  • Bestimmte Betriebe (z. B. Verlustbetriebe, Kleinstbetriebe) werden systematisch ausgeschlossen. Unter anderem durch die nicht-zufallsgesteuerten Auswahl, insbesondere bei einer bewussten Auswahl, ist die Repräsentativität der Stichprobe grundsätzlich nicht gewährleistet und es besteht auch keine Möglichkeit, die Größe des Zufallsfehlers zu berechnen.
  • Nach Ansicht des Senats hängt die Tauglichkeit der Richtsatzsammlung als Instrument des äußeren Betriebsvergleichs davon ab, ob die Voraussetzung einer Zufallsauswahl erfüllt ist. Die von der Richtsatzkommission ermittelten Rohgewinnaufschlagsätze können nur dann für die jeweilige Gewerbeklasse repräsentativ sein, wenn die Auswahl der sogenannten Normalbetriebe, deren Ergebnisse in die Ermittlung der Richtsätze eingeflossen sind, unter statistischen Gesichtspunkten den Ansprüchen einer „echten“ Zufallsauswahl gerecht wird.

    Entsprechende Darlegungen, die den Schluss erlauben würden, dass die … Prämisse einer Zufallsstichprobe beziehungsweise einer „echten“ Zufallsauswahl im mathematisch-statistischen Sinne in Bezug auf die amtliche Richtsatzsammlung erfüllt ist, lassen sich den Ausführungen des FA und des BMF nicht entnehmen. …

    Wenn somit aber die Finanzverwaltung einerseits einräumt, dass eine Richtsatzsammlung nur dann statistisch valide Aussagen treffen kann, wenn ihre Daten auf der Grundlage einer Stichprobenziehung in Form einer „echten“ Zufallsauswahl gewonnen worden sind, diese Voraussetzung aber tatsächlich nicht erfüllt ist, weil schon das Verfahren zur Stichprobenziehung weder exakt beschrieben noch konsequent umgesetzt worden ist und darüber hinaus eine Auswahl prüfungswürdiger und „geeigneter Normalbetriebe“ vorgenommen wird, die eben keine Zufallsauswahl mehr darstellt, dann gibt es ‑ nach derzeitigem Stand ‑ keine Gewähr dafür, dass die in der amtlichen Richtsatzsammlung enthaltenen Daten für die jeweilige Gewerbeklasse repräsentativ sind. Folglich ist die amtliche Richtsatzsammlung in ihrer gegenwärtigen Form kein taugliches Instrument für eine Schätzung nach § 162 AO im Wege des äußeren Betriebsvergleichs.

d. Begründungspflichten

  • Diskotheken sind in den Gewerbeklassen der Richtsatzsammlung nicht enthalten.

Das FG habe seine Entscheidung nicht hinreichend nachvollziehbar begründet. Gerade bei der Anwendung der Richtsatzsammlung müsse erklärt werden, warum ein Betrieb einer bestimmten Gewerbeklasse zugeordnet werde und weshalb keine genauere Methode in Betracht komme.

3. Auswirkungen für die Praxis

Für die steuerliche Beratungspraxis ist das Urteil von nicht zu unterschätzender Tragweite:

  1. Offene Ladenkassen: Das Urteil unterstreicht die hohen Anforderungen an die Kassenführung. Steuerpflichtige, die offene Ladenkassen nutzen, müssen täglich nachvollziehbare Kassenberichte führen. Fehlt die Kassensturzfähigkeit, droht eine Vollverwerfung der Buchführung. Bei einer offenen Ladenkasse begründet die fehlende Kassensturzfähigkeit einen formellen Buchführungsmangel.
  2. Schätzungsmethoden: Der BFH grenzt den Ermessensspielraum von FA und FG bei der Auswahl von Schätzungsmethoden deutlich ein. Steuerberater sollten bei Schätzungen stets prüfen, ob ein innerer Betriebsvergleich (z. B. Nachkalkulation) nicht Vorrang vor einem äußeren Betriebsvergleich hat.
  3. Richtsatzsammlung: Das Urteil stellt die Richtsatzsammlung des BMF grundsätzlich in Frage. Bis zu einer Anpassung durch Verwaltung oder Gesetzgeber sind erhebliche Unsicherheiten zu erwarten. Verteidigungsstrategien können darauf aufbauen, dass eine Richtsatzschätzung nicht automatisch belastbar ist.
  4. Prozessuale Anforderungen: Gerichte sind verpflichtet, Schätzungen transparent und nachvollziehbar zu begründen. Steuerberater können hier ansetzen, um Schätzungen erfolgreich anzugreifen.

4. Fazit

Das BFH-Urteil vom 18.06.2025 (X R 19/21) verdeutlicht: Offene Ladenkassen bergen erhebliche Risiken. Schätzungen durch Finanzamt und Finanzgerichte müssen streng begründet werden, wobei genauere Methoden wie Nachkalkulationen Vorrang genießen. Die Richtsatzsammlung ist nur eingeschränkt tauglich. Für die Praxis bedeutet dies mehr Angriffspunkte gegen pauschale Schätzungen und eine Stärkung der Rechte der Steuerpflichtigen.


Autor: RA & StB Andreas Jahn


Anhang: Was ist die amtliche Richtsatzsammlung?

Die amtliche Richtsatzsammlung ist ein von der Finanzverwaltung herausgegebenes Hilfsmittel für Betriebsprüfungen und Schätzungen. Sie wird vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) jährlich im Bundessteuerblatt veröffentlicht.

Zweck

  • Sie dient dazu, branchentypische Rohgewinnaufschlagsätze (Verhältnis zwischen Wareneinsatz und Verkaufspreis) und andere betriebswirtschaftliche Kennzahlen zur Verfügung zu stellen.
  • Diese Werte sollen als Vergleichsmaßstab dienen, wenn die Buchführung eines Unternehmens Mängel aufweist und das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO schätzen muss.

Inhalt

  • Aufgeteilt nach Gewerbeklassen (z. B. Bäckereien, Metzgereien, Gaststätten, Einzelhandel usw.).
  • Enthält jeweils einen unteren und oberen Rahmensatz sowie einen Mittelwert für Rohgewinnaufschläge.
  • Grundlage sind Daten aus Betriebsprüfungen, die von den Landesfinanzbehörden geliefert werden.

Rechtscharakter

  • Keine Rechtsnorm, sondern ein bloßes Hilfsmittel.
  • Das Finanzamt darf sie nutzen, ist aber verpflichtet, die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen.
  • Steuerpflichtige können darlegen, warum ihr Betrieb von den Durchschnittswerten abweicht.

Kritik

  • Repräsentativität fraglich: Es fließen nur geprüfte Betriebe ein, Verlustbetriebe und Kleinstbetriebe werden ausgeschlossen!
  • Brancheneinteilung oft zu grob: Unterschiedliche Betriebe (z. B. Restaurant vs. Diskothek) werden teilweise in eine gemeinsame Klasse gepackt, obwohl ihre Strukturen kaum vergleichbar sind.
  • BFH-Zweifel: Im Urteil vom 18.06.2025 (X R 19/21) hat der BFH erhebliche Zweifel geäußert, ob die Richtsatzsammlung in ihrer bisherigen Form überhaupt als belastbare Grundlage für Schätzungen taugt.
  • Die notwendige Prämisse einer Zufallsstichprobe beziehungsweise einer „echten“ Zufallsauswahl im mathematisch-statistischen Sinne in Bezug auf die amtliche Richtsatzsammlung ist (derzeit) nicht erfüllt. Statistisch valide Aussagen sind nicht möglich.
  • Fehlende statistische Repräsentativität der zur Ermittlung der Richtsätze herangezogenen Daten und kategorischer Ausschluss bestimmter Gruppen von Betrieben bei der Ermittlung der Richtsatzwerte.

Kurz gesagt: Die amtliche Richtsatzsammlung ist ein statistisches Werkzeug der Finanzverwaltung für Schätzungen – nützlich, aber rechtlich unverbindlich und methodisch umstritten.

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  • „Häufig empfohlen wird Andreas Jahn, Steuerrecht.“
    (JUVE Handbuch Wirtschaftskanzleien 2017-2024)

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