
1. Worum es geht
Im Mittelpunkt des BFH-Urteils vom 14. Mai 2025 (VI R 14/22) stand die Frage, ob trotz Übermittlung der korrekten elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen durch Arbeitgeber und Speicherung unter der Steuernummer der Kläger eine Steuerhinterziehung anzunehmen ist. Zudem war zu klären, wann eine Finanzbehörde im Rahmen einer möglichen Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) als „wissend“ gilt – insbesondere, wenn steuerrelevante Daten elektronisch gespeichert, aber nicht aktiv ausgewertet wurden.
Die Kläger, ein Ehepaar, waren bis einschließlich 2008 gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt. Der Ehemann erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die nach Steuerklasse III besteuert wurden. Bis 2008 reichten die Eheleute regelmäßig Steuererklärungen ein. Ihr Steuerfall war beim Finanzamt (FA) als Antragsveranlagung gespeichert.
In den Streitjahren 2009 und 2010 nahm auch die Ehefrau eine nichtselbständige Tätigkeit auf (Steuerklasse V). Nach § 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG hätte daher eine Pflichtveranlagung erfolgen müssen. Steuererklärungen gaben die Kläger jedoch nicht mehr ab; das Finanzamt forderte sie hierzu auch nicht auf.
Die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen wurden den Finanzbehörden durch die Arbeitgeber übermittelt und unter der Steuernummer der Kläger gespeichert. Sie lagen jedoch lediglich abrufbar in einem Datenspeicher des Finanzamts, ohne automatisch in die elektronische Akte aufgenommen zu werden.
Erst Anfang 2018 stellte das FA bei einer Prüfung durch die Oberfinanzdirektion fest, dass wegen der Steuerklassenkombination III/V eine Pflichtveranlagung bestanden hätte. Am 8. Juni 2018 erließ das Finanzamt daraufhin Schätzungsbescheide mit Verspätungszuschlägen für beide Streitjahre.
Die Preisfrage: Wegen Steuerhinterziehung noch rechtzeitig oder wegen Festsetzungsverjährung zu spät?
2. Entscheidung des Finanzgerichts Münster (Vorinstanz)
Das FG Münster (Urteil vom 24. Juni 2022, 4 K 135/19 E) gab der Klage statt.
Es vertrat die Auffassung, dass keine Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) vorliege, da dem Finanzamt die relevanten Daten elektronisch vorgelegen hätten.
Dem zuständigen Sachbearbeiter sei es möglich gewesen, die für die Veranlagung wesentlichen Tatsachen – die Lohnsteuerdaten beider Ehegatten – abzurufen. Damit habe die Finanzbehörde Kenntnis gehabt, sodass der objektive Tatbestand der Steuerhinterziehung nicht erfüllt sei.
3. Revision und Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH)
Der BFH hob die Entscheidung des FG auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück.
Der BFH stellte klar, dass die Beurteilung der „Kenntnis“ im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO organisationsbezogen zu erfolgen habe:
„Zur Beantwortung der Frage, ob die Finanzbehörde Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen hat, ist auf diejenigen Personen abzustellen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind.“
Die bloße Speicherung elektronischer Daten auf abrufbaren Datenträgern reicht nicht aus, um eine Kenntnis im steuerstrafrechtlichen Sinn zu begründen:
„Elektronische Daten, die nicht automatisch zur Papierakte oder elektronischen Akte gelangen, sondern lediglich auf Datenspeichern der Finanzbehörde zum Abruf bereitliegen, sind nicht schon deshalb bekannt im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, weil sie mit der Steuernummer des Steuerpflichtigen verknüpft sind.“
Der BFH wiederholte zunächst die allgemeinen Grundsätze:
- Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuerfestsetzung unzulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.
- Die Frist beträgt gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO grundsätzlich vier Jahre, bei Steuerhinterziehung zehn Jahre, bei leichtfertiger Steuerverkürzung fünf Jahre.
- Der Beginn der Frist richtet sich nach § 170 AO:
- Grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist.
- Wenn eine Steuererklärung einzureichen ist, beginnt sie spätestens mit Ablauf des dritten Kalenderjahres nach Entstehung der Steuer (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
Aufgrund der gewählten Steuerklassen III und V hätten die Kläger als zusammenveranlagte Ehegatten eine Steuererklärung abgeben müssen (§ 149 Abs. 1 Satz 1 AO und § 25 Abs. 3 EStG i.V.m. § 56 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStDV und § 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG). Damit begann die Festsetzungsfrist für:
- 2009 mit Ablauf des 31. Dezember 2012
- 2010 mit Ablauf des 31. Dezember 2013
Die reguläre vierjährige Frist endete somit am 31. Dezember 2016 bzw. 31. Dezember 2017, also vor den belastenden Bescheiden. Eine Verlängerung auf zehn bzw. fünf Jahre wäre nur bei Steuerhinterziehung oder leichtfertiger Steuerverkürzung zulässig .
4. Entscheidungsgründe im Einzelnen
Eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) liegt vor, wenn
- jemand pflichtwidrig steuerlich erhebliche Tatsachen nicht offenlegt und
- die Finanzbehörde dadurch in Unkenntnis bleibt.
Der BFH bestätigte, dass die Nichtabgabe einer Steuererklärung grundsätzlich geeignet ist, diesen Tatbestand zu erfüllen. Wesentlich war im konkreten Fall, dass das FA – trotz vorhandener elektronischer Daten – nicht „wissend“ im Rechtssinn war.
Die Daten waren zwar technisch abrufbar, aber nicht Bestandteil der elektronischen Akte. Sie waren nur aus einem Datenspeicher in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar, ohne dass sie bereits automatisch zu einer Papierakte oder elektronischen Akte gelangt waren. Angesichts der Speicherung als Antragsveranlagung bestand für den Bearbeiter keine Veranlassung zur Einsicht in den Datenspeicher und zum Datenabruf. Der zuständige Bearbeiter hatte daher keine tatsächliche Kenntnis von der Beschäftigung der Ehefrau.
Das heißt, die Finanzbehörde muss sich zwar den gesamten Akteninhalt als bekannt zurechnen lassen – nicht jedoch bloß gespeicherte, aber nicht automatisch eingespielte Daten. Dies gilt auch, wenn diese Daten mit der Steuernummer verknüpft sind. Eine allgemeine Verfügbarkeit im DV-System genügt nicht.
Subjektiver Tatbestand und weitere Prüfung
Da das FG von einer unzutreffenden Rechtsauffassung ausgegangen war, konnte der BFH den subjektiven Tatbestand (Vorsatz oder Leichtfertigkeit) nicht abschließend beurteilen.
Das Verfahren wurde daher zur weiteren Sachaufklärung an das FG Münster zurückverwiesen.
Im zweiten Rechtsgang muss insbesondere geprüft werden:
- Ob die Kläger vorsätzlich oder leichtfertig keine Steuererklärungen abgegeben haben;
- Ob die verlängerte Festsetzungsfrist (zehn oder fünf Jahre) greift;
- Ob die Verspätungszuschläge rechtmäßig waren.
5. Schlussfolgerungen für die Praxis
Das Urteil klärt ein praxisrelevantes Problem: Welche Daten gelten der Finanzverwaltung als bekannt?
- Steuerberater sollten ihre Mandanten darauf hinweisen, dass elektronisch übermittelte Lohndaten allein keine Abgabe einer Steuererklärung ersetzen.
- Elektronische Lohnsteuerdaten, die nicht automatisch Teil der Akte werden, gelten nicht als bekannt.
- Eine Pflichtveranlagung entsteht insbesondere bei Ehegatten mit der Steuerklassenkombination III/V automatisch.
- Die Finanzverwaltung darf sich dabei auf die formale Speicherung verlassen – selbst wenn Daten technisch vorhanden sind, führt das allein nicht zur „Kenntnis“ im steuerrechtlichen Sinn.
Für die Verteidigung bedeutet das Urteil, dass eine Kenntnis der Behörde restriktiv zu verstehen ist. Das bloße Vorhandensein von eDaten hat keine strafbefreiende Wirkung – der Steuerpflichtige bleibt zur Abgabe der Erklärung verpflichtet.
Abschließender Hinweis zur Festsetzungsverjährung
Das Urteil belegt die Bedeutung der richtigen Berechnung der Festsetzungsfrist:
- Ohne Hinterziehung: vier Jahre
- Bei Steuerhinterziehung: zehn Jahre
- Bei leichtfertiger Steuerverkürzung: fünf Jahre
Bei Pflichtveranlagungen beginnt die Frist erst mit Ablauf des dritten Jahres nach Entstehung der Steuer, wenn keine Erklärung abgegeben wurde. Dadurch kann sich der Beginn der Verjährung erheblich nach hinten verschieben.
Autor: RA & StB Andreas Jahn
Auszeichnungen
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„Häufig empfohlen wird Andreas Jahn, Steuerrecht.“(JUVE Handbuch Wirtschaftskanzleien 2017-2024)
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