27.10.2025 -
Der BFH stellt klar: Eine zu Unrecht gebildete § 6b EStG-Rücklage ist als Bilanzierungsfehler nach den Grundsätzen des formellen Bilanzenzusammenhangs zu berichtigen. Relevanz für Steuerberater und Immobiliengesellschaften.
Steuerberater, Immobiliengesellschaften und deren Geschäftsführer aufgepasst! Warum Sie bestehende § 6b-Rücklagen regelmäßig auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen sollten! (credits: adobestock)

BFH-Urteil vom 02.07.2025 – XI R 27/22

Wenn eine § 6b-Rücklage fehlerhaft gebildet wird, kann das steuerlich weitreichende Folgen haben – insbesondere, wenn die Veranlagung längst bestandskräftig ist. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 02.07.2025 (XI R 27/22) klargestellt, dass eine zu Unrecht gebildete Rücklage kein bloßer Rechenposten, sondern ein Bilanzierungsfehler ist, der zwingend nach den Grundsätzen des formellen Bilanzenzusammenhangs zu korrigieren ist. Das Urteil zeigt, wie wichtig eine präzise Bilanzierung und die Kenntnis der Verjährungsfristen in der Praxis sind.

1. Sachverhalt

    Die Klägerin, eine GmbH, verwaltet Grundvermögen. Im Jahr 2002 veräußerte sie ihren gesamten Immobilienbestand und bildete in der Bilanz zum 31.12.2002 eine gewinnmindernde Rücklage gemäß § 6b Abs. 3 EStG.

    Das Finanzamt (FA) führte 2004 eine Außenprüfung für die Jahre 1999 bis 2002 durch. Streitpunkt war, ob sich der Ort der Geschäftsleitung im Inland oder im Ausland (Österreich) befand. Das FA ging letztlich von einer inländischen Geschäftsleitung aus und erkannte die § 6b-Rücklage an. Der Körperschaftsteuerbescheid 2002 vom 02.10.2006 wurde bestandskräftig.

    Für das Jahr 2003 erfolgte zunächst eine Veranlagung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO), später ein Änderungsbescheid (§ 164 Abs. 2 AO) vom 12. 03.2013. Im Einspruchsverfahren trug die GmbH vor, die Geschäftsleitung habe sich im Ausland befunden; die Körperschaftsteuer müsse daher auf Null reduziert werden.

    Daraufhin änderte das FA seine Rechtsauffassung: Da keine inländische Betriebsstätte bestanden habe, sei die § 6b-Rücklage 2002 rechtswidrig gebildet worden. Nach den Grundsätzen des formellen Bilanzenzusammenhangs müsse sie im ersten offenen Jahr (2003) gewinnerhöhend aufgelöst werden.

    Das Finanzgericht Düsseldorf (Urteil vom 03.05.2022 – 6 K 3388/16 K,F) gab der Klage statt. Es entschied, dass die Auflösung der Rücklage nicht nach den Regeln des formellen Bilanzenzusammenhangs erfolgen dürfe, weil § 6b EStG eine eigenständige Spezialregelung enthalte. Die Rücklage sei kein Bilanzfehler, sondern ein steuerlicher Eigenkapitalposten, der nur nach § 6b Abs. 3 Satz 5 EStG aufzulösen sei.

    Gegen dieses Urteil legte das FA Revision ein.

    2. Entscheidungsgründe des BFH

      Der Bundesfinanzhof (BFH) hob das Urteil des FG auf und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung zurück. Das FG habe zu Unrecht angenommen, dass die Grundsätze des formellen Bilanzenzusammenhangs nicht auf Rücklagen nach § 6b EStG anzuwenden seien.

      a. Grundsatz: Fehlerhafte § 6b-Rücklage ist Bilanzierungsfehler

      Der BFH betont:

      Hat ein bilanzierender Steuerpflichtiger eine Rücklage nach § 6b Abs. 3 EStG zu Unrecht gebildet, begründet dies einen Bilanzierungsfehler, der nach den Regeln des formellen Bilanzenzusammenhangs […] zu korrigieren ist.“

      Damit schließt sich der XI. Senat der bisherigen Rechtsprechung an (vgl. BFH vom 07.07.1992 – VIII R 24/91; BFH-Beschluss vom 30.04.2013 – I B 151/12).

      Die Berichtigung hat grundsätzlich in der Bilanz des fehlerhaften Jahres zu erfolgen. Ist die Veranlagung jedoch bestandskräftig, ist der erste offene Veranlagungszeitraum maßgeblich – unter Beachtung der Festsetzungsverjährung (§§ 169 ff. AO).

      b. Keine Sperrwirkung des § 6b Abs. 3 EStG

        Das FG Düsseldorf hatte argumentiert, § 6b EStG enthalte eine abschließende Spezialregelung. Der BFH verwarf diese Auffassung:

        Die Grundsätze des formellen Bilanzenzusammenhangs gelten auch für Rücklagen nach § 6b Abs. 3 EStG.“

        Die Rücklage stellt trotz ihres Eigenkapitalcharakters einen eigenständigen Bilanzposten dar. Wird sie zu Unrecht gebildet, liegt damit ein Bilanzierungsfehler vor. Die Korrektur erfolgt im Wege des formellen Bilanzenzusammenhangs – nicht lediglich durch Ablauf der Sechs-Jahres-Frist des § 6b Abs. 3 Satz 5 EStG.

        c. Keine Gleichheitsverstöße

          Der BFH weist den Einwand der Klägerin zurück, wonach bilanzierende Steuerpflichtige gegenüber Einnahmen-Überschuss-Rechnern benachteiligt würden:

          Eine frühere Gewinnrealisierung bei bilanzierenden Steuerpflichtigen ist nicht verfassungswidrig; entscheidend ist allein der identische Totalgewinn.“

          d. Zurückverweisung an das FG

            Der BFH konnte nicht abschließend entscheiden, ob die Rücklage 2002 tatsächlich zu Unrecht gebildet wurde. Das FG muss im zweiten Rechtsgang prüfen, ob die veräußerten Wirtschaftsgüter im Zeitpunkt der Veräußerung mindestens sechs Jahre zum Anlagevermögen einer inländischen Betriebsstätte im Sinne des § 6b Abs. 4 S. 1 Nr. 2 EStG gehörten.

            Ist dies nicht der Fall, ist die Rücklage im Streitjahr 2003 gewinnerhöhend aufzulösen.

            3. Bedeutung des formellen Bilanzenzusammenhangs

              Der formelle Bilanzenzusammenhang verpflichtet den Steuerpflichtigen, Fehler aus Vorjahren in der nächsten noch offenen Bilanz fortzuführen und dort zu korrigieren. Dieses Prinzip sichert die Kontinuität der Bilanzansätze über mehrere Jahre hinweg und verhindert, dass durch Bestandskraft oder Verjährung unrichtige Bilanzwerte dauerhaft steuerwirksam bleiben.

              Für die Praxis bedeutet dies: Bilanzierungsfehler (auch fehlerhafte Rücklagen) wirken fort, bis sie in einer offenen Bilanz berichtigt werden.

              4. Festsetzungsfrist und Verjährung

                Die Festsetzungsfrist beträgt grundsätzlich vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO).

                Sie beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO).

                Beispiel: Wird der Körperschaftsteuerbescheid 2002 im Jahr 2006 bestandskräftig, kann eine Korrektur dieses Jahres später nicht mehr erfolgen; die Berichtigung erfolgt dann im ersten noch offenen Jahr, also etwa 2003 – vorausgesetzt, die Festsetzungsverjährung für 2003 ist noch nicht eingetreten.

                Damit verdeutlicht der BFH: Die Korrektur darf nur im Rahmen offener Veranlagungszeiträume und innerhalb der Festsetzungsfrist erfolgen.

                5. Einordnung und praktische Auswirkungen

                a. Für bilanzierende Steuerpflichtige

                  Eine zu Unrecht gebildete Rücklage nach § 6b EStG darf nach dem BFH nicht folgenlos bestehen bleiben, sondern ist als Bilanzierungsfehler zu berichtigen – selbst dann, wenn der ursprüngliche Steuerbescheid längst bestandskräftig ist.

                  Damit rückt die Bilanzkontinuität in den Fokus der steuerlichen Verantwortung: Ein einmaliger Fehler wirkt sich über Jahre fort und muss im ersten noch offenen Jahr korrigiert werden. Die Korrektur erfolgt nicht freiwillig, sondern zwingend – sobald der formelle Bilanzenzusammenhang eine Berichtigung erlaubt. Das Urteil bekräftigt, dass fehlerhafte Rücklagen nach § 6b EStG nicht „verfallen“, sondern aktiv berichtigt werden müssen.

                  b. Finanzielle Folgen: Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG als „Zinsfalle“

                    Besonders brisant ist die im Urteil nicht behandelte Folge der nachträglichen Auflösung:

                    Wird eine § 6b-Rücklage später gewinnerhöhend aufgelöst, greift zusätzlich der Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG. Dieser Zuschlag beträgt 6 % für jedes volle Jahr, in dem die Rücklage bestand – eine fiktive Verzinsung, die ökonomisch wie eine Steuerstundungs-Kompensation wirkt.

                    Denkbares Beispiel:

                    Eine im Jahr 2002 gebildete und erst 2025 aufgelöste Rücklage von 300.000 € gilt als 22 Jahre bestehend.

                    6 % × 22 Jahre = 132 % Zuschlag → 396.000 € zusätzlicher Gewinn.

                    Der steuerpflichtige Gesamtbetrag steigt somit auf 696.000 €, was bei rund 30 % Körperschaftsteuer ≈ 208.800 € Mehrsteuer bedeutet. Dieser Zuschlag wird nicht jährlich, sondern einmalig im Jahr der Auflösung erhoben – er enthält also keinen Zinseszins, wirkt aber wie eine pauschale Rückverzinsung der unzulässigen Steuerstundung über alle Jahre hinweg.

                    Damit kann die Korrektur einer alten, fehlerhaften Rücklage zu einer massiven Steuerbelastung führen, selbst wenn der eigentliche Gewinn längst verausgabt oder ausgeschüttet wurde. Für bilanzierende Unternehmen ist daher eine laufende Überprüfung der bestehenden § 6b-Rücklagen zwingend ratsam.

                    c. Für Steuerberater und Gesellschaften

                      Für Steuerberater bedeutet dies erhöhte Prüfpflichten bei der Bilanzkontinuität:

                      • Jede § 6b-Rücklage ist hinsichtlich ihrer Entstehungsvoraussetzungen und des Zeitablaufs zu prüfen.
                      • Bestehen Zweifel an der Rechtmäßigkeit, muss frühzeitig auf Korrekturen hingewiesen werden, um spätere Verböserungen zu vermeiden.
                      • Bei Betriebsprüfungen sollte der mögliche Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG stets in die Risikoberechnung einbezogen werden. Bestehen Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer § 6b-Rücklage, muss geprüft werden, ob sie noch im nächsten offenen Jahr korrigierbar ist.

                      Ein besonderes Augenmerk ist auf Bestandskraft und Festsetzungsverjährung zu richten: Ist das Ursprungsjahr verfahrensrechtlich abgeschlossen, kann der Fehler nur im nächsten offenen Jahr berichtigt werden – dann jedoch zwangsläufig gewinnerhöhend.

                      d. Für Steuerstrafverteidiger

                        Auch steuerstrafrechtlich hat die Entscheidung Relevanz. Wird eine unzulässige Rücklage gebildet und über Jahre nicht korrigiert, kann dies eine Steuerverkürzung durch Unterlassen (§ 370 AO) begründen.

                        Der BFH verdeutlicht, dass ein fehlerhafter Bilanzansatz fortwirkt, solange er nicht berichtigt wird. Damit wird die Bilanz als fortdauernde Erklärungshandlung interpretiert – ein zentraler Aspekt für Verteidigungsstrategien in Steuerstrafverfahren.

                        6. Fazit

                          • Eine zu Unrecht gebildete Rücklage nach § 6b EStG ist ein Bilanzierungsfehler.
                          • Die Korrektur erfolgt zwingend nach den Grundsätzen des formellen Bilanzenzusammenhangs, selbst bei bestandskräftiger Vorjahresveranlagung.
                          • Die Festsetzungsfrist (§§ 169 ff. AO) bestimmt, bis wann eine Berichtigung möglich ist.
                          • Wird die Rücklage nach Jahren aufgelöst, greift zusätzlich der Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG – de facto eine rückwirkende Verzinsung von 6 % pro Jahr, die zu massiven Steuermehrbelastungen führen kann.

                          Steuerberater, Immobiliengesellschaften und deren Geschäftsführer sollten bestehende § 6b-Rücklagen regelmäßig auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen. Eine vermeintlich harmlose Alt-Rücklage kann – wie der Fall zeigt – Jahrzehnte später zu massiven Mehrsteuern führen. Frühzeitige Überprüfung und saubere Dokumentation sind der beste Schutz vor bösen Überraschungen – sowohl steuerlich als auch strafrechtlich.


                          Autor: RA & StB Andreas Jahn

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