Auch aus nicht mehr anfechtbaren gerichtlichen Entscheidungen kann die Vollstreckung unzulässig sein, wenn sie auf einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Auslegung einer Norm beruht. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht in einem nun veröffentlichten Beschluss vom 06. Dezember 2005 (Az.: 1 BvR 1905/02) und hob damit eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 11. Juli 2002 (Az.: IX ZR 326/99) auf.

Dem liegt folgende rechtliche Vorgeschichte zugrunde:

Am 19. Oktober 1993 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Zivilgerichte verpflichtet sind, bei der Auslegung und Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Sittenwidrigkeit“ im Sinne des § 138 BGB die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie zu beachten. Damals hatte eine 21-jährige vermögenslose Bürgin für ihren Vater eine Bürgschaft übernommen; das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass Bürgschaftsverträge, die das „Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke“ sind, sittenwidrig seien.

Vorliegend hatte eine nicht erwerbstätige Ehefrau und Mutter zweier Kinder für ihren Ehemann eine Bürgschaft in Höhe von 200.00,00 DM übernommen; sie wurde 1992 rechtskräftig zur Zahlung von 70.000,00 DM verurteilt. Die Bank wollte nun vollstrecken; die mittlerweile geschiedene Frau berief sich auf die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingetretene Änderung der Rechtsprechung, wonach der Bürgschaftsvertrag nach § 138 BGB als nichtig anzusehen sei. Das Landgericht Köln erklärte die Vollstreckung für unzulässig; das Oberlandesgericht Köln wies die Klage hingegen ab.

Dem folgte der Bundesgerichtshof: Der Senat war der Auffassung, dass die Vollstreckung zulässig sei, da ihr Fall noch nach der alten Rechtslage rechtskräftig entschieden worden war und wies die Klage ab. Das Recht gewähre nur in engen Grenzen die Möglichkeit, gegen ein rechtskräftiges Urteil vorzugehen. Die Vollstreckung aus einer unanfechtbaren Entscheidung sei dann unzulässig, wenn sie auf einer vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Norm beruhe; erforderlich sei daher zumindest eine auf die Gültigkeit einer bestimmten Rechtsnorm bezogene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nicht lediglich die Erklärung, eine bestimmte Auslegung oder Anwendung einer uneingeschränkt gültigen Rechtsnorm sei verfassungswidrig.

Dieses Urteil hob das Bundesverfassungsgericht nun auf: Die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG müsse in entsprechender Anwendung gelten, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht auf Nichtigkeit einer Norm erkannt, sondern lediglich deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festgestellt bzw. – wie vorliegend – eine bestimmte Auslegungsvariante für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt habe.

§ 79 Abs. 2 BVerfGG bestimmt, dass aus nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Rechtsnorm beruhen, nicht vollstreckt werden darf. Der Wortlaut der Norm umfasst dementsprechend ausschließlich Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen; nicht angesprochen sind die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht eine Norm oder eine bestimmte Auslegung einer Norm lediglich für grundgesetzwidrig erklärt hat.

Die das Strafrecht betreffende Regelung des § 79 Abs. 1 BVerfGG hingegen enthält einen zusätzlichen Wiederaufnahmegrund, wenn die zugrunde liegende Norm oder Normauslegung für grundgesetzwidrig erklärt wurde. Um einen inhaltlichen Widerspruch zu § 79 Abs. 2 BVerfGG zu vermeiden, muss nach jetziger Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch Abs. 2 Entscheidungen erfassen, die auf einer für unvereinbar erklärten Auslegung oder Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs beruhen.

Damit gilt für die Praxis:

Ist ein Bürge mit einer Entscheidung, die vor dem 19. Oktober 1993 rechtskräftig wurde, zur Zahlung verurteilt worden, obwohl der Bürgschaftsvertrag nach den vom Bundesverfassungsgericht 1993 festgelegten Maßstäben nun als nichtig anzusehen wäre, kann er die Entscheidung zwar nicht mehr anfechten; er kann sich allerdings erfolgreich gegen die Vollstreckung aus diesem Urteil wehren. Betroffene sollten sich daher beraten lassen, ob ihr damaliger Bürgschaftsvertrag nach der mittlerweile geänderten Rechtsprechung als sittenwidrig anzusehen wäre.

Verfasserin: Rechtsanwältin Dr. Annette Wittmütz.

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