Mit zwei Parallelentscheidungen hat das Bundessozialgericht am Mittwoch Rechtsunsicherheiten bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens ausgeräumt. Danach schließt ein vor dem 01.01.2012 ergangener Regressbescheid die Anwendung der seit dem 01.01.2012 geltenden Neuregelung in § 106 Abs. 5e SGB V (Beratung vor Regress) aus.
Problemaufriss:
Gemäß § 84 Abs. 6 SGB V steht jedem ambulanten Leistungserbringer pro Quartal ein begrenztes Volumen an zu verordnenden Arznei- und Verbandmitteln zu (Richtgrößenvolumen). Die Einhaltung des individuellen Richtgrößenvolumens wird von den dafür eingerichteten Prüfungsstellen im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen gem. § 106 SGB V überwacht.
Als Rechtsfolge einer Überschreitung sah das Gesetz bis zum 31.11.2011 in § 106 Abs. 1a und 5a SGB V bei einer Überschreitung zwischen 15% und 25% eine Beratung vor, während eine Überschreitung von mehr als 25% die Prüfungsstellen unmittelbar zur Festsetzung eines Regresses berechtigte.
Mit der zum 01.01.2012 in Kraft getretenen Regelung in § 106 Abs. 5e SGB V legte der Gesetzgeber den Grundsatz der Beratung vor Regress auch bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens von über 25% fest. Im Oktober 2012 fügte der Gesetzgeber der Regelung einen Satz 7 an, mit dem die Anwendbarkeit der Regelung in § 106 Abs. 5e SGB V auf alle Verfahren, die am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen waren, klargestellt wurde.
Wie (fast) jede gesetzliche Neuregelung eröffneten sich auch hier neue Problemfelder. Zum einen stellt sich die Frage, wann ein erstmaliges Überschreiten vorliegt. Können nur solche Quartale berücksichtigt werden, die nach dem 31.11.2011 liegen und bei denen eine Beratung nach § 106 Abs. 1a SGB V stattgefunden hat (so das LSG BW im Februar 2013)? Oder sind auch Regressbescheide für vorangegangene Quartale mit einzubeziehen, auch wenn aufgrund der alten Rechtslage keine Beratung stattgefunden hat (so das LSG NRW im November 2013)?
Zum anderen wird die Anwendbarkeit der Regelung des § 106 Abs. 5e SGB V auf solche Fälle unterschiedlich beurteilt, bei denen das Verwaltungsverfahren – also bis zur Entscheidung des gegen eine Entscheidung der Prüfungsstelle anzurufenden Beschwerdeausschusses – zwischen dem 01.01.2012 und dem 25.10.2012 (Ergänzung des Satz 7) beendet wurde.
Diese beiden Fragen hatte das Bundessozialgericht in zwei Parallelentscheidungen am 22.10.2014 zu entscheiden.
Der Fall:
Ein Arzt aus Baden-Württemberg wendete sich gegen eine Honorarrückforderung der Prüfungsstelle wegen einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens im Jahr 2008, nachdem bereits für die Jahre 2006 und 2007 Prüfbescheide wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens ergingen. Im dem Bescheid für das Jahr 2008 waren allerdings bestimmte Praxisbesonderheiten noch nicht berücksichtigt.
Mit Prüfbescheid vom 22.12.2010 setzte die Prüfungsstelle einen Regress fest. Im Rahmen des sich bis ins Jahr 2012 hineinziehende Widerspruchsverfahrens vor dem Beschwerdeausschuss wies der Arzt außerdem darauf hin, dass aufgrund der zum 01.01.2012 in Kraft getretenen Neuregelung der Regressbescheid aufzuheben sei. Der Beschwerdeausschuss wies den Widerspruch mit Bescheid vom 19.09.2012 zurück.
Das gegen diesen Bescheid angerufene SG Stuttgart gab dem Arzt Recht und hob den Regressbescheid auf. Unter Bezugnahme auf das o.g. Urteil des LSG Baden-Württemberg führte es aus, dass § 106 Abs. 5e SGB V spätestens aufgrund des nachgefügten Satz 7 auf den vorliegenden Fall Anwendung fände. Außerdem sei unter der erstmaligen Überschreitung nur eine solche zu verstehen, auf die eine Beratung nach § 106 Abs. 5a SGB V erfolge.
Die Entscheidung:
Das BSG hob die Entscheidung des SG wieder auf. Für eine erstmalige Überschreitung sei allein darauf abzustellen, ob in der Vergangenheit ein Regressbescheid wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25% gegen den jeweiligen Arzt ergangen sei. Die förmliche Zustellung und die darin festgestellte unwirtschaftliche Verordnungsweise seien ausreichend. Es erfolge ausdrücklich keine auf Nullstellung für die Zeit ab dem 01.01.2012.
Außerdem fände die Regelung auf Entscheidungen der Beschwerdeausschüsse, die vor Inkrafttreten des Satzes 7 ergingen, keine Anwendung.
Fazit:
Die Entscheidung liegt zunächst nur als Terminbericht vor. Inwieweit die Entscheidung nachvollziehbar ist, wird sich erst nach Veröffentlichung der Urteilsbegründung beurteilen lassen können.
Klar ist aber schon jetzt, dass der in der Vergangenheit auffällig gewordene Leistungserbringer (bei dem die Auffälligkeit nicht durch Praxisbesonderheiten erklärt werden konnte) die Einhaltung seines Richtgrößenvolumens weiterhin genauestens im Auge behalten sollte. Die Neuregelung wird von den Prüfstellen, Beschwerdeausschüssen und Sozialgerichten entsprechend restriktiv angewandt werden – soweit dies nicht ohnehin bereits der Fall war. Ein einmaliger „Freifahrtsschein“ ist mit der Neuregelung jedenfalls nicht verbunden.
Soweit die Neuregelung nicht auf Entscheidungen der Beschwerdeausschüsse angewandt wird, die zwischen dem 01.01.2012 und dem 25.10.2012 ergangen sind, dürften die Auswirkungen überschaubar bleiben. Zum einen ist nur eine begrenzte Zahl von Verfahren betroffen. Zum anderen wird sich dies auf die Klageentscheidung des Einzelnen nicht mehr auswirken können. Die Widerspruchsbescheide sind entweder rechtskräftig geworden oder befinden sich bereits im Klageverfahren.
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