07.05.2003 -

Schwerbehinderten Menschen kann nur insoweit gekündigt werden, als das Integrationsamt (bisher Hauptfürsorgestelle) der ordentlichen wie außerordentlichen Kündigung vorher zugestimmt hat. Die Fristenregelungen gerade bei einer außerordentlichen Kündigung eines Schwerbehinderten sind dabei außerordentlich kompliziert. Wir möchten deshalb ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts, mit dem die bisherige Rechtsprechung nochmals klargestellt worden ist, zum Anlass nehmen, um die wichtigsten Grundsätze im Zusammenhang darzustellen (Bundesarbeitsgerichts, Urteil vom 15.11.2001 – 2 AZR 380/00 -).

 

Der Fall (verkürzt):

Der klagende Arbeitnehmer war seit 1983 als Krankenpfleger, zuletzt auf der Intensivstation, beschäftigt. Er hatte einen Grad der Behinderung von 50 und auf das Arbeitsverhältnis fanden kraft einzelvertraglicher Inbezugnahme die Regelungen des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT) Anwendung.

 

Dem Arbeitnehmer wurden erhebliche arbeitsvertragliche Pflichtverletzungen, insbesondere die Missachtung ärztlicher Anweisungen, vorgeworfen. Die Pflegedienstleitung erfuhr von den Vorfällen am 26. August 1998 und informierte bereits am 27. August 1998 den bei ihr gebildeten Betriebsrat über die beabsichtigte außerordentliche Kündigung. Der Bescheid des Integrationsamtes trägt das Datum vom 8. September 1998 und ist der Arbeitgeberin am 9. September zugegangen. Noch am 9. September 1998 überbrachte ein Bote der Arbeitgeberin das Kündigungsschreiben dem Arbeitnehmer.

 

Mit seiner vor dem zuständigen Arbeitsgericht erhobenen Klage machte der Arbeitnehmer die Unwirksamkeit der Kündigung geltend und berief sich unter anderem auf besonderen Fristenregelungen für Schwerbehinderte, die von der Arbeitgeberseite nicht eingehalten worden seien.

 

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie nach Durchführung einer Beweisaufnahme abgewiesen.

 

Die Entscheidung des BAG:

In der Revision hat das Bundesarbeitsgericht das klageabweisende Urteil des LAG bestätigt.

 

I. Vorbemerkung: Neues Recht!

Zum 1. Juli 2002 ist das Sozialgesetzbuch – 9. Buch – (SGB IX) „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ in Kraft getreten. In diesem neuen SGB IX werden nahezu sämtliche Vorschriften des Deutschen Rechts, die sich mit dem Ausgleich von Nachteilen behinderter Menschen befassen, zusammengefasst. Das bislang im Schwerbehindertengesetz (SchwbG) geregelte Schwerbehindertenrecht ist insgesamt in die §§ 68 ff. SGB IX überführt und mit Wirkung zum 1. Juli 2001 aufgehoben worden.

 

An dem Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte, der nun in den §§ 85 ff. SGB IX geregelt ist, hat sich inhaltlich nichts geändert, so dass auf die bisherige Rechtsprechung und Literatur ohne Einschränkung zurückgegriffen werden kann. Begrifflich ist aus dem Schwerbehinderten nun der schwerbehinderte Mensch geworden (§ 2 Abs. 3 SGB IX). Die Hauptfürsorgestelle heißt nun Integrationsamt.

 

II. Fristlose Kündigung eines Schwerbehinderten

 

1. Grundsätze

Will der Arbeitgeber einem schwerbehinderten Menschen fristlos aus wichtigem Grund nach § 626 BGB kündigen, so bedarf diese außerordentliche Kündigung der Zustimmung des Integrationsamtes nach § 91 SGB IX (bisher § 21 SchwbG). Die ohne Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochene Kündigung ist und bleibt auch bei einem noch so schwerwiegenden Kündigungsgrund unwirksam.

 

2. Unterschiedliche Fristen beachten

Bei der Fristenkontrolle sind unterschiedliche zwingende gesetzliche Fristen zu beachten.

 

Kündigungsfrist

Zunächst einmal ist nach § 626 Abs. 2 BGB eine fristlose Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen seit Kenntnis des die Kündigung rechtfertigenden Grundes zulässig. Wird diese 2-Wochen-Frist versäumt, ist die fristlose Kündigung schon deshalb unheilbar unwirksam.

 

Antragsfrist Integrationsamt

Zudem muss aber vor Ausspruch der fristlosen Kündigung auch noch die Zustimmung zur Kündigung beim Integrationsamt beantragt werden. Insoweit bestimmt deshalb § 91 Abs. 2 SGB IX, dass auch diese Frist mit dem Zeitpunkt beginnt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Entscheidend für die Fristwahrung ist der Eingang des Antrages bei den zuständigen Integrationsamt.

 

3. Entscheidung des Integrationsamtes

Bei beantragter fristloser Kündigung hat das Integrationsamt innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages die Entscheidung über die Zustimmung oder Nichtzustimmung zu treffen, § 91 Abs. 3 SGB IX. Da es dem Arbeitgeber regelmäßig nicht möglich ist, bis zum Ablauf der 2-wöchigen Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB bei einem schwerbehinderten Arbeitnehmer auch noch die Zustimmung des Integrationsamtes, auf deren Erteilung und die Durchführung des Verwaltungsverfahrens er keinen Einfluss hat, einzuholen, hat der Gesetzgeber dem mit der wichtigen Sondervorschrift des § 91 Abs. 5 SGB IX Rechnung getragen. Danach kann nämlich die Kündigung ausnahmsweise auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 BGB erfolgen, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung erklärt wird, d.h. ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 BGB). Die Vorschrift dient damit dem Schutz des Arbeitgebers. Ist hingegen die 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB noch nicht abgelaufen, bedarf es des Ausnahmevorschrift des § 91 Abs. 5 SGB IX nicht. Die zum Schutz des Arbeitgebers geschaffene Regelung würde sich sonst in ihr Gegenteil verkehren und dem Arbeitgeber die allgemein geltende Frist des § 626 Abs. 2 BGB ohne Grund verkürzen. Deshalb kann und muss es bei der Anwendung der Grundfrist des § 626 Abs. 2 BGB verbleiben, wenn noch während deren Lauf eine Zustimmung des Integrationsamtes zur außerordentlichen Kündigung vorliegt.

 

4. Lösung des Falles

In dem  konkreten Fall wurde die kündigungsberechtigte Pflegedienstleitung am 26. August informiert. Die 2-wöchige Kündigungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB lief damit am 9. September ab. Unstreitig erhielt der Arbeitnehmer an diesem 9. September die Kündigung, die damit fristgerecht zuging. Die Frage, ob die Zustimmung des Integrationsamtes bereits einige Tage vor dem 9. September der Personalabteilung bekannt gewesen ist, was der Arbeitnehmer behauptet hat, konnte damit offen bleiben. Der Einwand der Fristversäumung nach § 91 Abs. 5 SGB IX ging damit ins Leere.

 

Hinweise für die Praxis:

Im Hinblick auf die komplizierte Fristenregelung bei der außerordentlichen Kündigung eines Schwerbehinderten kann nur dringend empfohlen werden, sich über die zu beachtenden Fristen genauestens zu versichern und bei der Fristenüberwachung größtmögliche Sorgfalt an den Tag zu legen. Das Risiko einer Fristversäumung mit der Folge der Unwirksamkeit einer ausgesprochenen Kündigung ist sehr groß!

 

Um nicht noch beim Zugang der Kündigung eine Fristversäumung eintreten zu lassen, empfiehlt es sich, einem abwesenden Arbeitnehmer die Kündigung durch Boten (Zeugen) überbringen oder in den Hausbriefkasten einwerfen zu lassen.

 

Weitere Einzelheiten zu diesem Thema z.B. bei Besgen/Jüngst, ABC der Kündigung, 4. Auflage 2001, Stichwort Schwerbehinderter Mensch

 

 

Leitsätze der Entscheidung:

Liegt die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zu einer außerordentlichen Kündigung eines Schwerbehinderten vor Ablauf der 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB vor, so kann der Arbeitgeber diese Kündigungserklärungsfrist voll ausschöpfen und muss nicht unverzüglich kündigen.

Die dem Schutz des Arbeitgebers dienende Regelung des § 21 Abs. 5 SchwbG 1986 ergänzt als speziellere Regelung § 626 Abs. 2 BGB nur nach Ablauf der 2-wöchigen Kündigungserklärungsfrist und führt nicht zu deren Verkürzung (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung Beschluss vom 22.01.1987 – 2 ABR 6/86BAGE 55, 9 ff.)

 

Verfasser: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Nicolai Besgen

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