24.09.2017 -

Das Weisungsrecht des Arbeitgebers umfasst Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung (vgl. § 106 GewO). Im bestehenden Arbeitsverhältnis ist dies im Grundsatz anerkannt und unproblematisch. Der Streit kann aber dann entstehen, wenn ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist. In welchem Umfange besteht das umfassende Direktionsrecht des Arbeitgebers auch während einer attestierten Arbeitsunfähigkeit fort? Mit dieser wichtigen Frage hatte sich das Bundesarbeitsgericht zu befassen und hat dazu wichtige Leitlinien für die Praxis aufgestellt (BAG v. 2.11.2016, 10 AZR 596/15).

 

Der Fall:
Die Parteien streiten über die Entfernung einer Abmahnung sowie über die Verpflichtung des klagenden Arbeitnehmers zur Teilnahme an Personalgesprächen während der Dauer einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit.

Der Kläger ist bei dem beklagten Krankenhaus seit dem 1. April 2003 als medizinischer Dokumentationsassistent beschäftigt.

Vom 29. November 2013 bis zum 21. Februar 2014 war er arbeitsunfähig krank. Der Arbeitgeber lud ihn mit Schreiben vom 18. Dezember 2013 „zur Klärung der weiteren Beschäftigungsmöglichkeit“ zu einem Gespräch am 6. Januar 2014 in das Klinikum ein. Die Angabe der Betreffzeile des Schreibens lautete „Beschäftigung als medizinischer Dokumentationsassistent“. Der Kläger sagte das Gespräch per Fax unter Hinweis auf seine ärztlich attestierte Arbeitsunfähigkeit ab.

Unter dem 24. Januar 2014 übersandte ihm die Beklagte ein inhaltlich identisches Einladungsschreiben für den nunmehr 11. Februar 2014. Diesem Schreiben war der Hinweis hinzugefügt, der Kläger habe gesundheitliche Gründe, die ihn an der Wahrnehmung dieses Termins hinderten, durch Vorlage eines speziellen ärztlichen Attests nachzuweisen. Die vorliegende allgemeine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung reiche hierfür nicht aus.

Auch die Teilnahme an diesem Gespräch lehnte der Kläger unter Hinweis auf seine weiterhin bestehende Arbeitsunfähigkeit ab. Der Arbeitgeber erteilte ihm daraufhin mit Schreiben vom 18. Februar 2014 eine Abmahnung. Es sei davon auszugehen, dass er den Gesprächen unentschuldigt ferngeblieben sei, da er keinen Nachweis darüber erbracht habe, an einem Personalgespräch krankheitsbedingt nicht teilnehmen zu können.

Das Arbeitsgericht hat der Abmahnungsklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat das Arbeitsgericht bestätigt.

 

Die Entscheidung:
Im Revisionsverfahren hat sich das Bundesarbeitsgericht den Entscheidungen der Vorinstanzen angeschlossen. Die Abmahnung ist aus der Personalakte zu entfernen.

 

I. Entfernungsanspruch
Arbeitnehmer können in entsprechender Anwendung der §§ 242, 1004 BGB die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus ihrer Personalakte verlangen. Der Anspruch besteht, wenn die Abmahnung inhaltlich unbestimmt ist, unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält, auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. Auch eine zu Recht erteilte Abmahnung ist aus der Personalakte zu entfernen, wenn kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers mehr an deren Verbleib in der Personalakte besteht.

 

Hinweis für die Praxis:
Mit dem Entfernungsanspruch ist allerdings keine Pflicht zur Geltendmachung verbunden. Arbeitnehmer können eine unwirksame Abmahnung auch in der Personalakte belassen und zuwarten, ob aus dieser Abmahnung später weitere Rechte hergeleitet werden können. Auch nach mehreren Jahren kann sich ein Arbeitnehmer noch auf die Unwirksamkeit der Abmahnung berufen. Fristen laufen nicht.

 

II. Keine BEM-Einladung
Das Bundesarbeitsgericht hat zunächst klargestellt, dass es sich bei der Aufforderung, während der Arbeitsunfähigkeit zu einem Personalgespräch zu erscheinen, nicht um eine Einladung zu einem BEM-Gespräch gehandelt hat. Personalgespräche zu einem Betrieblichen Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX können nur mit Zustimmung der Arbeitnehmer stattfinden. In dem Einladungsschreiben war aber weder ausdrücklich noch sinngemäß von einem Betrieblichen Eingliederungsmanagement die Rede. Es waren auch keine sonstigen Anhaltspunkte für diese Intention vorhanden. Auch der Arbeitgeber berief sich darauf nicht.

 

Hinweis für die Praxis:
Die Einladung zu einem BEM-Gespräch muss deutlich als solche erkennbar sein. Nur wenn die entsprechenden Voraussetzungen für eine formale Einladung nach § 84 Abs. 2 SGB IX vorhanden sind, bestimmt sich das BEM-Gespräch auch nach den Regeln des SGB IX. Arbeitgeber müssen daher darauf achten, welchen Sinn ein Gespräch während einer Arbeitsunfähigkeit haben soll und die entsprechende Formalie dringend beachten.

 

III. Weisungsrecht während Arbeitsunfähigkeit?
Die entscheidende Frage war hier also, ob der Arbeitgeber berechtigt war, während einer attestierten Arbeitsunfähigkeit einen Arbeitnehmer zu einem Personalgespräch zu verpflichten. Das Bundesarbeitsgericht unterscheidet dazu zwischen Hauptleistungs- und Nebenleistungspflichten von Arbeitnehmern.

 

1. Hauptleistungspflichten
Das Weisungsrecht nach § 106 GewO betrifft zunächst die Konkretisierung der Hauptleistungsflicht. Es ermöglicht dem Arbeitgeber, dem Arbeitnehmer bestimmte Aufgaben zuzuweisen und den Ort und die Zeit ihrer Erledigung verbindlich festzulegen. Das beinhaltet die Berechtigung, den Arbeitnehmer zur Teilnahme an Gesprächen zu verpflichten, in denen der Arbeitgeber Weisungen vorbereiten, erteilen oder ihre Nichterfüllung beanstanden will.

Aber: Während der Dauer einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit hat der Arbeitgeber kein Weisungsrecht gem. § 106 GewO, soweit es Pflichten betrifft, von deren Erfüllung der Arbeitnehmer gerade krankheitsbedingt befreit ist. Dazu zählen die Arbeitspflicht als Hauptleistungspflicht sowie die unmittelbar damit zusammenhängenden Nebenleistungspflichten, die der Arbeitspflicht nahekommen. Ein Arbeitnehmer kann also nicht während einer Arbeitsunfähigkeit zu einem Personalgespräch, das sich mit den Hauptleistungspflichten befasst, herangezogen werden. Ein Personalgespräch zu Hauptleistungspflichten schied hier also von vornherein wegen der Arbeitsunfähigkeit aus.

 

2. Nebenleistungspflichten
Die besondere Bindung der Vertragspartner im Arbeitsverhältnis bewirkt eine Vielzahl von weiteren Pflichten, deren Erfüllung unumgänglich ist, um das Arbeitsverhältnis sinnvoll zu ermöglichen. Sie zielen auf die Verwirklichung des Leistungserfolges, in dem sie der Erhaltung der Leistungsmöglichkeit, der Vorbereitung, Unterstützung, Förderung und ordnungsgemäßen Durchführung sowie der Sicherung der Hauptleistung dienen. Man spricht hier von sog. „leistungssichernden Neben- oder Verhaltenspflichten“. Diese Pflichten bestehen auch während einer Arbeitsunfähigkeit fort.

Wegen der latenten Gefahr einer Beeinträchtigung des Genesungsprozesses und einer dadurch bedingten Verlängerung des krankheitsbedingten Ausfalls der Arbeitsleistung gebietet es aber die allgemeine Rücksichtnahmepflicht (vgl. § 241 Abs. 2 BGB) dem Arbeitgeber, die Erteilung von Weisungen auf dringende betriebliche Anlässe zu beschränken und sich bezüglich der Art und Weise, der Häufigkeit und der Dauer der Inanspruchnahme am wohlverstandenen Interesse des Arbeitnehmers zu orientieren. Ist kein derartiger Anlass gegeben, hat der Arbeitgeber jegliche Weisung während der Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu unterlassen.

 

Beispiel 1:
Nach dieser Maßgabe darf der Arbeitgeber den erkrankten Arbeitnehmer etwa anweisen, mit ihm ein kurzes Personalgespräch zu führen, wenn der Arbeitnehmer über Informationen zu wichtigen betrieblichen Abläufen oder Vorgängen verfügt, ohne deren Weitergabe dem Arbeitgeber die Fortführung der Geschäfte erheblich erschwert oder gar unmöglich würde.

 

Beispiel 2:
Ein dringender betrieblicher Anlass für eine solche Weisung kann auch gegeben sein, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über aktuell bevorstehende Änderungen des Arbeitsablaufs, die erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsplatz des Arbeitnehmers haben, informieren und seine Meinung dazu einholen möchte. Gleiches gilt, wenn er mit ihm über seine Bereitschaft sprechen möchte, eine neue Arbeitsaufgabe zu übernehmen, bevor die Stelle anderweitig besetzt wird.

 

Hinweis für die Praxis:
Voraussetzung für solche Gespräche ist allerdings stets, dass sie nicht auf einen Zeitpunkt nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit aufschiebbar und dem Arbeitnehmer zumutbar sind. Weitere Voraussetzung ist, dass die persönliche Anwesenheit des Arbeitnehmers im Betrieb dringend erforderlich ist. So können bestimmte Fragen auch schriftlich oder per E-Mail ausgetauscht werden.

 

Fazit:
Personalgespräche können auch während einer attestierten Arbeitsunfähigkeit angeordnet werden. Der Inhalt der Gespräche darf sich aber nicht auf die Arbeitsverpflichtung als solche (die Hauptleistungspflicht) beziehen, sondern muss sich mit Nebenpflichten im Arbeitsverhältnis befassen. Der Arbeitnehmer muss dann für ein Gespräch während seiner Arbeitsunfähigkeit nur dann zur Verfügung stehen, wenn es dazu einen dringenden betrieblichen Anlass gibt. Der Arbeitgeber kann auch verpflichtet sein, von einem persönlichen Gespräch abzusehen, wenn die dringende Frage auch schriftlich zu klären ist.

Zu unterscheiden ist von diesen Grundsätzen die Einladung zu einem BEM-Gespräch. Das BEM-Verfahren kann auch während einer Arbeitsunfähigkeit eingeleitet werden und hängt von der Zustimmung des Arbeitnehmers ab.

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